Das pedantische Leben




von Holger Schulze















(aus: Die Bewegung der Empfindung, 2001-2004; Erstabdruck in: Inmitten der Dinge. Ãœber Mediologie – sinn-haft 8 (2004), H. 17, Löcker Verlag Wien 2004, S. 100-110)















Drei Bücher werden zur gleichen Zeit gelesen. An erster Stelle ein gutgeschriebener, angenehm lesbarer Roman, auch eine Sammlung mit Erzählungen. Zweitens ein grundlegendes Theoriewerk, aktuell oder historisch. Schließlich bis zu drei kürzere, weniger bedeutsame Theorietexte. Und abhängig von eigenen Arbeiten täglich wechselnde Aufsätze, Fallstudien, Artikel. Zeitschriften müssen sowohl in ihrer äusseren Gestaltung wie auch der Textauswahl Herausragendes bieten. Themen, Autoren, Stilmerkmale, Typografie. Sie werden systematisch durchgelesen, alle Beiträge, zumindest aber die wichtigsten. Mit einem Kugelschreiber-, Bleistiftpunkt oder -strich jeder gelesene Beitrag im Inhaltsverzeichnis markiert.



Die Lektüre von Sammelbänden oder Anthologien beginnt mit dem Vor- oder Nachwort, dem ersten oder letzten Beitrag, wahlweise auch dem kürzesten oder unmittelbar interessierenden. Wenige Zeilen lange Texte werden bevorzugt, maximal eine Seite. Ist der Band durchforstet, die Kürzest-Texte sofort gelesen, beginnt eine zweite Lektürephase, auf der Suche nach längeren, zunächst mittellangen Texten. Einzig wenn diese sich schon beim Durchblättern als unumgänglich erweisen, werden auch die längsten Texte sofort gelesen; meistens jedoch erst in der abschließenden Lektürephase.



Sofort nach Erwerb beginnt die erste Lektürephase, unterwegs in öffentlichen Verkehrsmitteln oder Cafés. Die zweite, langwierigere zieht sich über Monate oder nur Wochen hin; gelegentlich – wenn auch nur selten – kommt sie zu keinem befriedigenden Ende.



Entscheidend ist der erste Satz. Wortwahl, Rhythmus oder angeschlagener Ton, auch der präsentierte Gegenstand oder die sich andeutende Haltung von Autor oder Autorin müssen hier eine weitere Lektüre reizvoll erscheinen lassen. Schon im ersten Satz soll durch Aussagen und Satzbau eine derart unmittelbar vor einem stehende Geistesgegenwart spürbar werden, dass das Reflexionsniveau des weiteren Textes damit schon unwiderruflich als ein unerreichbar Begehrenswertes erscheint. Der Sog beginnt.



Aus einem literarhistorischen Pflichtgefühl heraus, pro forma, wird der Text aber auch dann nach Schlüsselwörtern durchsucht, wenn alle diese Qualitätssymptome sich nicht feststellen lassen. Eine Pflichtüberprüfung, die auf Eigennamen und Abstrakta, überraschende Adjektive, Satzanschlüsse und Komposita sich richtet, typografisch hervorgehobene Passagen, Zwischentitel werden gesucht. Eine Überprüfung, die am Ende dann aber doch meist eher einem gezieltem Durchblättern ähnelt. Erweist der letzte Satz sich dann wider Erwarten doch überraschend interessant und anregend, wird daraufhin der gesamte letzte Absatz noch einmal gelesen, sicher ist sicher. Die Spannbreite zwischen dem ersten und dem letzten Abschnitt, dem Einsetzen und Abschließen des Textes, der dargestellten Situation am Anfang und ihrer sprachlichen Verfasstheit am Ende wird also überprüft. Es ist diese Spannung, die erkennen lassen soll, ob der Text in seiner Gesamtheit eine derart unvorhersehbare und neuartige Entwicklung in Stilistik und Darstellung durchläuft, dass er für intensive Lektüre Wert erachtet wird. Ein sicheres Anzeichen ist aber auch das nicht. Texte, die vom Ende her zwar interessant wirken, durch ihren aufgeblasenen, schlecht gebauten Stil jedoch von einer kompletten Lektüre eher abschrecken, werden darum sicherheitshalber nur von hinten nach vorne gelesen, Absatz für Absatz. Eine zeitraubend-langweilige Lektüre kann so, durch dieses locker faktenaufsammelnde Lesen, eventuell vermieden werden.



Ihre eigentliche Bestimmung findet diese Beurteilung anhand der Spannbreite zwischen Anfangs- und Schlusssequenz allerdings beim Kauf eines Romans oder der Wahl einer wissenschaftlichen Arbeit. Schon ein Blick auf das Druckbild erlaubt hier eine eindringliche Beurteilung. Absatzhäufigkeit, direkte Rede, eingestreute Leerzeilen, eingerückte Verse, Sperrungen, Kapitälchen oder radikale Kleinschreibung. Lässt die Gestaltung dieser Parameter eine ausreichende Reflexionstiefe erahnen, so spricht dies für eine gewinnbringende Lektüre voller Anregungen.



Die Entscheidung für die Sprache, Weltsicht oder dargestellte Weltausschnitte eines Textes wird jedoch auch im Hinblick auf soeben Gelesenes, sowie eine nun beabsichtigte Öffnung oder Schließung, Weiterung oder Veränderung der eigenen Sprache gefällt. Eine willentlich-indirekte Beeinflussung der eigenen Sprache, Weltsicht oder darstellbaren Weltausschnitte, ja der eigenen Person, wird mit dieser Entscheidung herbeigeführt. Schwierige Fälle machen eine probeweise Ausleihe und Testlektüre notwendig. Andere Fälle dagegen warten Monate oder auch Jahre darauf, endlich sinnvoll in das eigene Lese- und Schreibleben integriert zu werden. Die imaginierte Beeinflussung der eigenen Person durch solch ein lange ungelesenes, aber umso mehr herbeigesehntes Buch, durch Wirkungsberichte von Freunden und Autoren, kann schließlich die tatsächliche Leseerfahrung so weit überwuchern, dass die eigene Lektüre nur enttäuschend ausfallen kann.



Entscheidungen über die Aneignung von Musik gestalten sich ähnlich schwierig. Der unmittelbare Eindruck einer Musik ist hier zwar bestimmend, er wird aber nuanciert und signifikant modifiziert durch grafische Gestaltungen des Speichermediums, sprachliche Qualitäten in Titelgebung und Texten, sowie visuelle Reize, die die Musikstücke umspielen. Ein Entwicklungssprung in der Werkbiographie ihres Urhebers oder der Hörgeschichte ihres Käufers können dabei gleichermaßen Argumente sein für die Integration des fraglichen Stückes in das eigene Musikleben.



Hinweise auf die potenzielle Eignung eines Produktes werden Äusserungen von Freunden oder Empfehlungen geachteter Autoren entnommen. Die Ãœberprüfung findet jedoch im Verkaufsraum statt. Der Anfang eines Artefaktes muss dem Käufer eine vollkommen neue, unerwartet andere Welt eröffnen. Ja, mehr noch: Dies sollte sich bei jedem der folgenden Abschnitte, Kapitel oder Tracks immer wieder aufs Neue wiederholen! Der physische Raum, die gesamte Situation und all die fremden Menschen um einen herum – so die Erwartung – soll durch das rezipierte Artefakt auf einen Schlag in etwas vollkommen Unbekanntes, Neuartiges, Faszinierendes und begeisternd Visionäres transformiert werden. Diesem Anspruch folgt die Ãœberprüfung vor Ort. In Einzelfällen ist die individualbiographisch begründete Desorientierung zum Zeitpunkt der Ãœberprüfung jedoch so groß, dass aus Angst vor einer weiteren Destabilisierung und Verwirrung der eigenen Person, das überprüfte Artefakt zwar als überaus bedeutsam erkannt wird – eine Aneignung jedoch aus psychohygienischen Gründen sicherheitshalber auf einen späteren, hierzu besser geeigneten Zeitpunkt verschoben wird. Stattdessen wird eher ein Artefakt ausgewählt, das minimalistische Linderung garantieren kann.



Wieder anders verhält es sich mit Musikvideos. Käuflich müssen diese nicht erworben werden, was eine abschließende Beurteilung entbehrlich macht. Eher unwillkürlich manifestieren sich hier Ablehnung und Anziehung, nicht-integrierte Clips werden nicht wahrgenommen, andere dagegen mit voller Aufmerksamkeit in den Veränderungen ihres Bildaufbaus, ihrer Farbigkeit und Faktur betrachtet. Zeitgebundene Tafelbilder. Durch die intensive und immer wiederholte Betrachtung können visuelle Beeindruckungen hervorgebracht werden, die die folgenden Stunden, Tage, oft auch Wochen überdauern. Stärkere Eindrücke als durch Bücher, Theaterstücke, die zugehörige Musik. Nur gelegentlich bewirken dies abendfüllende Filmen, und auch nur für einen Abend, wenige Stunden lang. Schon darum erfolgt die Auswahl eines filmischen Artefakts ebenso skrupulös wie die der vorgenannten Produkte. Zeit ist kostbar. Charakterliche Beeindruckung schwer einzuschätzen.



Diesem Prozess von Auswahl, Verarbeitung und Nachbereitung medialer Artefakte wenden wir unsere ganze Aufmerksamkeit zu. Raumzeitlich weit entfernte Menschen erscheinen dadurch mit uns verbunden, Freunde in unserer Nähe dagegen rücken in eine maßvolle Halbdistanz. Auch Orte, an denen wir planen, uns länger aufzuhalten, werden in skurpulösen Seelenerkundungen auf ihre beruhigend-sinnesreizende Wirkung hin überprüft. Ob unsere persönliche Anwesenheit an einem Ort angenehm und überraschend sein kann, muss sich anhand eines Konglomerats zu uns dringender Hinweise erschließen lassen. Persönliche Erzählungen und Bewertungen von Freunden gilt es hier ebenso einzuholen wie auch die textlich-visuelle Gestaltung der Einladung zu untersuchen, die Anziehungskraft beteiligter Institutionen und Personen abzuschätzen. An diesem Ort, zu jenem Ereignis sollte die Wahrscheinlichkeit, unvorhersehbar anregende Verbindungen mit anderen Menschen zu schließen, hinreichend groß sein. Die Erwartung richtet sich auf eine den gesamten Lebensalltag umwälzende Wirkung. Dies gilt für Orte an denen gegessen und getrunken, getanzt und geredet wird, wie auch für Orte an denen wir Lebensmittel, Kleidungsstücke und schließlich auch mediale Artefakte erwerben.



Es ist die Begegnung mit einem künftig, romantischen Partner, die den Aufenthalt an solch einem Ort, bei solchen Ereignissen rechtfertigt. Schon der erste, noch höchst distanzierte Kontakt muss hier erkennen lassen, wie lohnend die weiteren Begegnungen sein werden. Die Nacht. Das Frühstück. Weitere Monate. Die kinoartige Gestimmtheit eines Abends kann sich förderlich auf unsere Neigung zu schicksalshaft-lebensverändernden Unternehmungen auswirken. Weite Gesten, lange Einstellungen werden bevorzugt, die vielfältige, nicht selten langandauernde Bekanntschaften hervorbringen. Solch ein angenehmes Selbstgefühl eigener Wirkmächtigkeit und Handlungsfähigkeit kann jedoch auch im Abschluss eines lang vorbereiteten Unternehmens wurzeln. Beglückte Erschöpfung, leicht. Das gelöste Agieren für interessierte Zuschauer überträgt sich auf das Umgehen mit freundlich nahen Menschen. In das bewegliche Wechselspiel aus Worten und Handlungen geraten. Kleine, symbolische Spiele körperlicher Nähe, tiefgreifende Fragen, Bekenntnisse; verengt sich der Kontakt. Anonyme Perligkeit, Swing – Ein Zwei-Personen-Aggregat. Nicht mehr voneinander lassen. Ãœberrascht und tief vertraut. Spielen über Stunden hinweg. Liebe. Sonst ähneln sich die Tage.



Stehen wir auf, gegen acht am Morgen, spätestens um halbzehn sitzen wir am Rechner, beginnen den Tag mit Mail-Abfragen, grünem Tee und irgendwas Kleinem zum Essen. Ideen der Nacht werden notiert, Lektüre oder Erlebnisse des vergegangenen Abends. Aus diesem Einflicken entsteht das Weiterschreiben, neue Sätze, zwingende Gedanken, Argumentationsschritte, Handlungsketten. Sich selbst lenkendes Interesse. Bis elf, zwölf arbeiten wir, folgen Pflichtanrufe, Behördengänge, Besorgungen, auch Lektüre aktueller Theoriewerke, Zeitungen, Datenbank-Recherche. Kaffee mit Freunden. Dann die Rückkehr zum aktuellen Text. Mittag gegen zwei oder drei. Weiterarbeiten bis sechs, acht, dann entweder weiterarbeiten bis zehn und fortgehn oder leichtes Fernsehen und Surfen, Chatten bis später. Ich danke den Datenbanken und Archiven, Museen und Warenhäusern: Eure Artefaktspeicher bereiten ein luxuröses Leben, einem jeden.



Die Wohnung, in der all dies stattfindet muss ein beruhigendes Heim sein. Nicht zu viele Photos, Plakate an den Wänden, besser gar keine. Weiss gestrichen, symmetrisch oder klar gegliedert möbliert, keine visuelle Beeindruckung, mehr alltägliche Bequemlichkeit den Nutzern, Gästen, Bewohnern. Möbel weniger schön als passend und ein Großmaß aus Freiraum zum Bewegen gewährend. Umhergehen, Genießen. Die wichtigsten Sitze, Tische frei im Raum, in gemessenem Abstand zu jeder Wand, ausgerichtet auf bestmögliche Akustik.



Tagelang wird das Haus kaum verlassen. Eigenes Arbeiten, gutes Essen, Genuss fremder Werke lässt kaum das Bedürfnis entstehen, diesen wohnlich-heimeligen Ort zu verlassen. Gibt es doch soviel zu tun hier! Beobachten, erkennen, bedenken! Zwei, drei Tage solcher häuslicher Tage folgen nicht selten aufeinander, was den Wunsch dann doch wieder merklich wachsen lässt, anderen Menschen zu begegnen. Sie nicht nur zu sehen, zu sprechen, sondern sich auszutauschen mit ihnen, auf eindringliche Weise, nachhaltig verändernd. Wir gehen hinaus. Kaufen ein, treffen Freunde, recherchieren in Bibliotheken, Mediotheken, besichtigen Ausstellungen, essen auswärts, besuchen Konzerte, Theaterstücke, Kinos und Clubs. Sehnen uns mehr und mehr in dieser Aussenwelt nach einem allumfassenden uns durch und durch umstülpenden, Grenzen von Logik, Moral ganz unwillkürlich übersehenden Austausch zu einem Menschen, einer Frau. Austausch, der – befeuert durch unsere einsame Arbeit – jetzt sofort stattfinden muss. Hier und jetzt; ohne Zeit zu verlieren; jede Gelegenheit, fast gleich wer; wo. Sehnen uns in dieser Gier und Geilheit nach vollkommener Gelöstheit, danach uns aufzulösen mit ihm, ihr, in einem gemeinsamen Traum, burlesken Welten der Phantasie, verwirklicht.



Unterhalten wir uns also mit möglichen Personen, Gespräche, reizvolle Auseinandersetzung suchen wir, flirten und flechten eloquente Girlanden um den Körper, Geist dieser Frau. Berühren ihre Schulter, Ellenbogen, ihre Schläfe. Ihren Bauchnabel. Ein Kuss gar? Ohne Kampf, ohne Argwohn mit Dir beisammen sein. Dich riechen, meine Nase über Deine Haut gleiten, Dich beatmen, mich beatmen lassen. Verschling mich, ich verschlinge Dich. Verdrück Dich, Du mich. Uns.



Ist dies kaum möglich, wächst das Leiden an der Einsamkeit, unerträglich. Trauer, Verlorenheit vollkommene, alone and an easy target. Wir bereiten Geschenke aus diesem Bedürfnis heraus. Sprechen Einladungen aus, Ketten von Komplimenten auf mögliche Personen. Um mein Gegenüber zu bewegen zu größtmöglicher Nähe, jetzt: Die Grenze des vermeintlich Eigenen, der Personen, mit einem Sprung zu verlassen. Hinein in Abgründe, Verlust, Bekenntnis, Erkennen. Gelegentlich gelingt dies auch. Als wäre mit allen die Nähe wieder hergestellt. Tiefe Zufriedenheit. Ja.



Doch die Fähigkeit zum Spiel zwischenmenschlicher Handlungen ist häufig durch das Leben daheim deutlich herabgesetzt. Die eigene Arbeit erschwert Verabredungen. Es scheint, als bräuchte es immer wieder erst einige Versuche und Einübungen, um diese Menschenscheu der eigenen Arbeit zu verlieren wieder. Eine Scheu, die sich derart auswachsen kann, dass selbst lang geplante, für Wochen herbeigesehnte Begegnungen am Abend als unerträglich und kaum zu bewältigen abgesagt werden. Und manchmal sind wir unfähig auch nur diesen einen Anruf zu bewältigen.



Ausser Kraft gesetzt werden all diese Schwierigkeiten jedoch, wie gesagt, ist die letzte Nacht verbracht worden mit einem Menschen, einer Frau. Die Tage fließen nun in einem fort. Unnötig gemessene Gliederungen einzuzführen. Alles ergibt sich aus ihr, aus intim-erotischer Spannung zu ihr. Unser beider Gedanken, Pläne, Arbeiten, Projekte, die sich verschränken miteinander mehr und mehr. Unauflöslich. Ein Impulsensemble. Jeder Morgen dehnt sich bis weit in den frühen Mittag hin aus. Zu unmöglichen Zeiten besuchen wir uns. Durchstreifen die Stadt auf der Suche nach dem gemeinsamen, neuen Leben, groß. Alles ist neu – Ein Abenteuer alles. Wir zwei sind groß.



Aufbrüche, neue Rhythmen, anders sich öffnende Ansichten. A new design of life. Das Abenteuer der Reise ins Leben des Anderen. Wechselseitige Änderung. Doch all dies bleibt eine Ausnahme. So bye bye love. Ausnahme des Anfangens, Aufbruchs, Neuentdeckens. Yeah bye bye love. Nicht allzulange und wir ersticken wieder, wir beide, uns wechselseitig in einer neuen oder alten Routine. Flüchten in den Arbeitsplan. Tagesablauf. Ticks und Schrulligkeiten. Schreiben, Lesen, Musik, Schlafen, Gespräche, Gehen, Essen. Allein. So bye bye.



Tägliche Termine erhalten wieder das Übergewicht, verdrängen das innere Leben der Gefühle. Wir nehmen Arbeits- und Planungsgespräche wieder ernster. Recherche- und Bibliothekstermine. Jeder Tag soll auf unterhaltsame Weise durchmischt sein. Aus einsamem Arbeiten am Text, Recherche und E-mail-Wechsel. Gesprächen am Telefon und im Café, warme Mahlzeit und Fortgehen am Abend. Projektbesprechungen, Rumliegen zu zweit. Ein Idealmaß, das nur selten erreicht wird, mit der Genauigkeit, die notwendig scheint zum Zufriedensein. Erreichen wir es, bleibt uns die Erinnerung an einen vollkommenen Tag noch für Jahre, Jahrzehnte. Auf immer.



Verfehlen wir dieses Maß aber über Tage und Wochen hinweg, immer wieder, auf zermürbende Art und Weise, wachsen die ganz grundsätzlichen Zweifel. Ist das richtig, unser Leben so zu führen? Überhaupt: es zu führen? Zorn und Traurigkeit, ungestillte Sehnsucht nach Beglückung und Erfahrung. Drückt uns nieder. Tief runter. Eine Kraft, die wir bestenfalls noch ablenken können in aktuell entstehende Texte. Arbeiten. Die Arbeit. Ratlosigkeit. Ödnis. Und wir setzen uns wieder tiefer mit den Schwierigkeiten auseinander, die eine Arbeit an uns stellt. Die Arbeit macht uns wieder frei. Dank der Einsamkeit.



Die Einsamkeit führt mich immer wieder zurück zum Lesen und Schreiben. Ich kehre zurück zu einem Buch und setze vielleicht – noch zittrig und furchtsam von der Verlorenheit meines Lebens -, meine Lektüre fort. Meine Anstreichungen. Eine Nomenklatur, die mich wieder ruhig werden lässt. Besonnen. Umsichtig. Worte und Sätze unterstreichen; gewellte Linien untendrunter, Kästen drumherum, senkrechte Linien am Rande der Seite, doppelte senkrechte Linien am Rand. Linien ganz nahe am Textblock oder genau in der Mitte, ganz am äussersten Seitenrand. Lockere Kringel um Wortfolgen, eine Unterstreichung, die bis zum Seitenrand weitergeführt wird und dort von einem Stichwort erklärt. Kleine Anmerkungen am Seitenende, Wortlisten mit Seitenzahlen auf einer leeren Seite am Ende. Zitate. Nummerierungen am Seitenrand, kleine Querstriche am Absatzende. Römische Ziffern, arabische. Eingekreiste Ziffern, gewinne mich wieder. Mich selbst. Beherrschung.



Linien in der Mitte des Seitenrandes bedeuten eine deutliche Hervorhebung, solche nahe am Text eher eine weniger deutliche; Markierung einer ganzen Satzperiode am Seitenrand mit einem Bogen von Satzanfang zu Satzende, weist auf einen Gedankenganz hin, der in all seinen Schritten interessant oder als überraschende Conclusio erscheint; gewellte Linien erleichtern das Wiederfinden von Namen oder Schlüsselbegriffen; zentrale Termini oder Fügungen werden als Zwischentitel in rechteckige Kästen eingeschlossen. Ziel ist, dass all diese Unterstreichungen bei einem späteren Durchblättern eine Art Abstract des Textes mir wieder an die Hand geben, eine erinnernde Lektüre erleichternd, in etlichen Monaten, Jahren, Jahrzehnten.



Das Unterstreichen, gliedernde Lesen, Eintauchen in Sprach- und Argumentations-, Handlungsrhythmus führt mich wieder in einen Ton hinein, für den Text, an dem ich derzeit schreibe. Rhythmische Ahnung, eine Sequenz oder nur der Wunsch, endlich wieder ein lange Zeit hängengelassenes Textstück wieder aufzunehmen, daran weiterzuarbeiten. Es fertigzustellen. Eine bündige Erzählfolge, einen schlüssigen Erzählton hierfür zu finden. Aus der Ruhe, dieser stillen Kraft des Lesens, seiner Besonnenheit, erhebt sich der eigene Text.



Ich komme zu mir wieder. Mein Denken und Empfinden, Ahnen, Formulieren kann wieder zur Wirklichkeit werden. Erzählung und Begründung. Ich danke der Einsamkeit.



Sie beschützt und begleitet mich durch Gegenstände, Worte und Wendungen. Ich schreibe an einer Liste seit vielen Jahren schon. Einer Liste der Artefakte, Bücher und Platten, Kleidungs- und Möbelstücke, Zeitschriften, Fernsehsendungen, Clubs, Websites, Kinofilme, Theaterstücke, die mein Erfahrungsleben eine Zeitlang bestimmt und geprägt haben. Ein Konsumverzeichnis, geordnet nach Monaten, rapide anschwellende wie deutlich ausdünnende Tabellen mit Namen der Urheber und Werke, der Jahreszahlen von Entstehung, Veröffentlichung, Ort der Herstellung. Mein Leben in Dingen. Ein Artefakt-Leben. Beruhigung des Geistes.



Das glückselig ununterbrochene Gleichmaß dunkler Reihen von Zeichen, Zeilen, Textblöcke Seitenweise. Innehalten, Anblicken. Eine milde und lindernde, schöne Handlung. Eine Seite umblättern. Ein Buch mit einem harten Einband auf den Tisch ablegen.



Erst nach dem ersten Einlesen wird – ist das Buch einmal in den Besitz seines Käufers übergegangen – auf der Innenseite des hinteren Einbanddeckels der Name des neuen Besitzers mit Bleistift vermerkt; früher auf dem vorderen Einbanddeckel, auch mit Tinte, Kugel- oder gar Faserschreiber. Auch nur Initialen oder gar der vollständige Name. Nachdem weit über die Hälfte des Buches schließlich gelesen wurde und klar zu sein scheint, welchen Zeitraum die Lektüre dieses Buches im eigenen Leben beansprucht hat, wird am unteren Ende des hinteren Einbanddeckels ebenfalls mit Bleistift der Monat oder das Monatsdoppel, sowie die zweistellige Jahreszahl der Lesezeit vermerkt. Umfasst sie mehr als zwei Monate, wird die Jahreszeit möglichst genau angegeben. Frühling 98, Sommer 90, Frühwinter 01. Doch vielleicht lüge ich.



Ich führe dieses Leben schon gar nicht mehr. Aufgrund von inneren Konflikten, von Auseinandersetzungen mit Freunden und Liebespartnern habe ich mich schon vor einigen Monaten dazu entschlossen, anzuerkennen, dass ein Leben eben doch kein Artefakt sein kann. Nicht Gegenstand philanthropischer Lebenskunst. Freunde, Menschen sind weder Dinge noch Kollaborateure. Ãœberraschende, unberechenbare Interventionen sind sie. Wunder, Geschenke, anonym oder intim gewendete Schüsse, Rufe, in das hinein, was geschieht. – Sollte ich dann nicht aber davon erzählen, wie diese Veränderung stattgefunden hat, anstatt nocheinmal mich nostalgisch verklärend zu einem Menschen zu stilisieren, der dieses pedantische Leben wohl mit kaum einem Zweifel noch zu leben scheint? Manches verbindet meine empirische Person noch mit diesem Ich des pedantischen Lebens, aber nicht mehr allzuviel. Ich müsste von ganz anderen, neuen Gewohnheiten erzählen. Doch sind diese derzeit noch kaum voll ausgebildet, so dass ich sie also weder erkennen, geschweige denn überhaupt beschreiben könnte. Ich kann nur das beschreiben, was vor der Veränderung stattgefunden hat. Die Veränderung selbst findet noch statt. Ich kann sie nicht erzählen, auch um nicht unhöflich oder indezent gegenüber beteiligten Personen zu sein. Die Verklärung des Lebens vor dieser Zeit genügt. Für jetzt. War es so gewesen? So könnte es gewesen sein. So einer war ich einmal. Vor dieser Zeit. Das Eintragen des Lektürezeitraums wiederholt sich bei jeder neuen Lektüre, so sie die Lebenszeit nachhaltig prägt. Lese- und Prägungsphasen lassen sich an der Liste dieser Zeiträume dann zurückverfolgen. Vielleicht will ich wissen wie andere leben. Eine Wendung, ein Halbsatz, ein Wort. Um zu hören wie es andern gelingt, der Tag. Die selbstgewählte Fremdbestimmung. Einsam unter Anderen. Doch ohne selbstzerfleischende Gedanken? Ernst Jünger, An der Zeitmauer, April 94, August 99, 7/03/01. Eine Klippe, Hürde des Ich, darüberhinweg. Die Halterung loslassen. Gelöst im Meer des Anderen. Herannahende, davonrollende Handlungen, verzweigend in zahllose Details. Uwe Johnson, Mutmaßungen über Jakob, Herbst 88, Oktober / November 90, November 91. Die Angst, einen Anderen zu zerstören. Die Angst selbst zerstört zu werden. Ahnung und Impuls. Die Gier. Ich bin ein schwacher Mensch. Stets erscheint meine Wohnung noch belebt, selbst wenn sie am Abend davor schon gegangen war. Etwas vibrierte noch merklich hindurch; zu spüren. Eine Empfindung.