Squarepusher Walter Jens, the Saint


von Holger Schulze





(aus: mediumflow01 – Der Kokon, 1997)




Nach dem Durchbruch im Herbst spielte sich plötzlich alles wieder draussen ab. Begann der Frühling also glatt noch einmal.


Yee-ha, all righty, sang unser Manager und freute sich: die Sonne ging tatsächlich doch jeden Tag wieder aufs Neue auf. Es war halb neun abends und er fuhr durch die Dämmerung des Kongo. Nach vierundzwanzig Tagen, die die heissesten des gesamten, zuende gehenden Jahrhunderts gewesen sein mussten, hatte es die letzte Nacht hindurch ohne Unterbrechung geregnet, die Luft war reingewaschen. Der beruhigende Herbst konnte beginnen.


Man schrieb den Mai 1997 und das hier musste also mehr sein als nur ein Übergangszustand. Links und rechts führten ihn Riesenbäume, schwarz; nur kurz erleuchtet von den Scheinwerfern. Alles war scharf und klar. Fern am Horizont schien das letzte Bisschen Licht vom Frühlingstag. Riesenwellhornschnecken krochen über die Fahrbahn. Musik spielte ständig, Let’s spent the night together – Wake up and live forever. War das der neue Geist? Der Squarepusher spürte, dass er hier willkommen war. Überall spielten sie Musik. Im Interim.


Er war der Heilige.


Die Abstraktion vorantreiben: die Resonanz der Abstraktion im wirklichen Leben, das war seine Aufgabe. nur wusste das hier noch niemand


vielleicht war es ganz gut so. (bis gestern hatte er das ja selber noch nicht gewusst. bis er dann, in den europäischen Kolonien noch, ins Büro des leitenden Geschäftsführers gerufen worden war. der Präsident der kongolesischen Akademie der Künste hatte auf offiziellem Wege den Squarepusher zu sich beordert. damit er den führenden Köpfen Afrikas seine Philosophie der Abstraktion und des Geistes vorstellen könne. deren Ruf bis dorthin gelangt war, eine Ehre.)


fragte ihn also der Geschäftsführer:

– Zieht es Sie in den Kongo?

er, ohne zu zögern:

– Ich bin bereit zu gehn …

das Ticket schon in der Hand zog er los, ins Zentrum des Reiches:

– Auf nach Kongo!


Die Besonnenheit, eine gute alte Sitte, hatte also wieder Einzug gehalten bei den Kolonialherren aus Afrika. Alles spielte sich endlich wieder draussen ab. wo er nun war: hier. Im Kongo. Glückseligkeitsidylle.


draussen also ständig Musik hier, Industrieschallplatten; während er endlich wieder zurückkehren konnte, an den Ort früherer Erfolge. mit einer ganz neuen seiner bekanntermaßen aufrüttelnden Präsentationen.


Er war der heilige Squarepusher. Ein neuer heiliger Geist. Ein Mann in Schwarz. und endlich war er wieder draussen, an der frischen Luft.


Vor der Laurent-Desiré-Kabila-Halle in Kinshasa, Hauptgebäude der Akademie der Künste, krochen ebenfalls Riesenwellhornschnecken über die Strasse. da war er nun. Im Gepäck sein Plädoyer. Abstraktes Leben. Reisen war wirklich ein Erkenntnismittel. durch Weltgenuss.


das intellektuelle Leben der Demokratischen Republik Kongo hielt den Atem an: Dieser Möchtegern-Manager, dieser doch sehr zweifelhafte Schamane aus dem europäischen Urwald sollte die Spaltung ihres Landes überwinden können? die doch schon seit Ewigkeiten Bestand hatte, wie alle meinten? Nur indem er Zauberworte wie ‘Europa’, ‘Geist’ oder ‘Sein’ vortrug? oder eine der gängigen, europäischen Rhapsodien, wie Weltgeist oder Abstraktion? Um eine Spaltung in zwei Kulturen zu beenden, die durch eine kaum zu überbietende wechselseitige Ignoranz gekennzeichnet waren?


Seinen Glatzkopf schraubte sich Walter Jens, wie der Squarepusher mit bürgerlichem Namen hiess, kurz vor der Passkontrolle in der Akademie ab, und legte ihn in seine Sporttasche. Er holte einen gemütlicheren, lakonischeren Kopf hervor, mit mittellangem Haarschnitt, lustigem Gesichtsausdruck, freundlich, den er sachkundig seinem Hals aufschraubte. Durch die Kontrolle kam er, ohne eine Festnahme befürchten zu müssen. Er war wieder fähig, einem in die Augen zu sehen.


auch drinnen spielte ständig Musik. die Mädchen an der Kontrolle machten sich über seine Taschen her. der neue Geist. Squarepusher, Walter Jens, The Saint. »Liebe ist Gott«, dachte er, »und Gott ist Liebe.« Dann liessen sie ihn durch. »Denn Gottesschau liebt jeder Mann und jede Frau.» Sie hatten also übersehen, dass er neben einer unverdächtigen Fototapete mit Herbstbirken auch ein Plädoyer für das abstrakte Leben in die Akademie einschleuste.


Tue Deine Pflicht

Nach dem Erfolg Deines Handelns frage nicht


Danach zu handeln hatten ihn die Geisteswissenschaften Europas gelehrt.

Das System der Wissenschaften war Jazz!


und jetzt war er wirklich drin:

In der Akademie der Künste von Kinshasa.


nur fast war er durch, als eine Frau von der Personenkontrolle doch noch meinte:

– Das ist ja toll, darf ich auch mal?

Erschrocken drehte der Squarepusher sich um – Sie wollte aber nur ihm durch die Haare fahren.

– Na klar, gab der Heilige zurück, mit einem zuvorkommenden Lächeln. Und sie flüsterte ihm zu:

– Begleitung sind sie nicht gewohnt, oder?

Walter Jens schmunzelte etwas verlegen und ertappt.


Nach einem Imbiss am Eingang des Vortragssaales und einer kurzen Einführung durch den Alterspräsidenten Richard Rorty begann der Squarpusher seinen Vortrag.


mit den Worten:


»Die gegenwärtige Zeitkritik, so sehr sie auch im einzelnen divergieren mag, geht von einem einheitlichen Wertmaßstab aus. Dieser Maßstab, so möchte ich in meinem Plädoyer zeigen, ist aber in keiner Weise gerechtfertigt. Seine Anwendung führt vielmehr zu falschen, unter Umständen sogar verhängnisvollen Schlüssen.«


die Akademie staunte und schwieg.

bestand doch die philosophische Besinnung, die sie sich von dem heiligen Walter Jens erhofften, in einer Naturphilosophie des Geistes. die besagte, dass eine Einheit von Natur und Geist tatsächlich immer schon vorauszusetzen war. und sich zeigen würde in einer Entwicklung des Geistes:

vom subjektiven, noch fast natürlichen Geist

über einen objektiven Geist, der in Artefakten niedergelegt sei

bis hin zum absoluten Geist

in Telepathie

Telekinese

und dem Einschwingen in das kosmische Pulsieren der

geistigen Macht


was die Mitglieder der Akademie natürlich mit einigem Recht für das altbekannte, typisch europäische Gesülze hielten, in esoterisch-hermeneutischer Verbrämung. Ein echter, gebildeter Afrikaner würde sich das kaum bieten lassen. sich mit so etwas kaum abgeben.

doch Jens sprach unbeirrt weiter:


»Die akademische Überschätzung gewohnter Schlussformen und die Missachtung des Kalküls im Alltag haben letztendlich eine gemeinsame Wurzel: Ahistorischer Traditionalismus in den Akademien und alltägliche Anbetung vermeintlich unverstellter Schönheit!


Die Verherrlichung des Gewohnten ist nichts anderes als Verneigung vor dem Populismus. Der Versuch, auch noch das letzte Element von Geist im Alltag zugunsten naiver Gewohnheit und gedankenloser Mechanik zurückzudrängen, geht dabei zurück auf die Pseudophilosophie des Digitalismus. Sie alle werden sich daran erinnern, welch schlechte Erfahrungen wir in den Kolonien damit schon vor Jahrhunderten gemacht haben!« Einige Akademiemitglieder legten nachdenklich die Köpfe zur Seite. Andere holten Notizassistenten hervor und Rorty lauschte gespannt.


»Nur das geistige Leben scheint mir fähig, mit der exakten Definition der Gedankenwelt eine stimmige heilsame Analyse unserer Zeit zu geben. Einzig eine Vita docta wird in der Lage sein, die Vielfalt der Erscheinungen auf ein allgemein verbindendes, aber nicht reduktives Gesetz zurückzuführen. Schon unsere alten Dichter, Luhmann, Kluge, Johnson, Nono, Laederach, hatten erkannt: ein ungebildetes Leben ist ein Widerspruch in sich!« er redete sich in Rage:


»Es könnte die Aufgabe gegenwärtiger Abstraktion sein, einem Leben den Weg zu ebnen, worin Intellekt und Anschauung, Abstraktion und Bild, Mythos und Design zu einer neuen, untrennbaren Einheit sich verbinden.«


folgte eine rhetorische Pause, in der er darum bemüht war, seinen tieferen Sprechton wieder zu finden. um dann damit zu beginnen, den Mitgliedern der Akademie seine Vision einer kunstvollen Wissenschaft vor Augen zu führen:


»Die Manager Europas – willkommen in der afrikanischen Akademie! Die Gelehrten dieses Hauses – eingeladen in die bescheidenen Salons Europas. Wir könnten voneinander lernen! Witz und Esprit würden die Lektionen bestimmen, an deren Ende wir uns schließlich jedesmal zu einem gemeinsamen Essen begäben. Mein Rat an die Mitglieder dieses Hauses lautet also:


Geht auf die Straßen der Welt,

geht auf die Straßen der Menschheit und

errichtet eine Zivilisation der Liebe


um den Menschen zu helfen,

die Welt verwandelt zu sehen

durch ewige Weisheit


und Liebe!«