Szenen aus dem Empire


von Holger Schulze




(Mai bis Oktober 2002)








try to balance the consistency principle

with the inconsistency principle








I


Zwischen Baumstämmen blitzt Sonne entlang. Wir gehen, eben die Landstraße überquerend, in ein kleines Wäldchen hinein. Einer der ersten strahlend hellen Tage in diesem Frühling. Immer noch hängt eisige Kälte in der Luft. Ein paar Minuten, eine ganze Stunde lang gehen wir, ich und der Freund eines Freundes, über die Felder. Wir gehen, auf einem Sandweg neben dem Haus, durch Gestrüpp und Lichtungen, in Dörfer und neue Vorortsiedlungen hinein. Mühsam steigen wir einen kleinen Hügel, mitten in einem Dorf, hinauf. Aus Müll aufgeschüttet oder doch eine Moräne aus der Eiszeit? Von oben sehen wir auf einen Kinderspielplatz mit einer gelben großen Raupe zum Hindurchkriechen. Wir gehen weiter und da es langsam wärmer wird, ziehen wir unsere Jacken aus. Wir mutmaßen und allzuoft fabulieren wir auch nur, wie diese Straßen, diese Häuser, diese merkwürdigen Grün- und Leerflächen entstanden sein mögen. Zwei Stunden nach dem Mittagessen, das unser Frühstück war, sind wir losgegangen. Unser gemeinsamer Freund, in dessen Haus, genauer im Haus seines Vaters, wir die Ostertage verbrachten, reparierte die Orgel seines Vaters, konnte also doch nicht mitkommen. Und jetzt, wir ziehen die Jacken wieder an, als wir in den Waldweg einbiegen, jetzt haben wir einen derart großen Bogen um das Haus herum geschlagen, dass aus dem kurzen Spaziergang eine kleine Wanderung geworden ist. Wir gehen vorbei an Familien, deren Kinder auf neuen Mountainbikes voranpreschen und zurückdüsen, vorbei an Mülltonnenunterständen aus unbehandeltem Holz; vorbei an Kinderspielplätzen, ebenfalls aus unbehandelten und entrindeten Baumstämmen.


Auf einer Anhöhe bläst ein Vater mit seinen Kindern auf Trompeten, Posaunen und Hörnern eine Reihe von Jagdliedern, Kirchen- und Kinderliedern; Bigbandliedern. Schließlich gehen wir quer über ein weites Feld, überqueren noch einen Fluss, der hier zum Rinnsaal geworden ist und kommen endlich auf der Landstraße an, in Richtung des Ortes, vor dessen Toren das Haus des Freundes steht. Dieser wartet schon davor, auf dem Sandweg, raucht als wir zurückkommen, und hat sich zur Heimfahrt in die Stadt ein weisses Oberhemd angezogen. Der Kleinbus parkt schon im Innenhof, fertig zum Einladen. Die Sonne steht tief.










II


Der Abend vor dem ersten Mai. Gegen vier Uhr nachmittags war ich nachhausegekommen. Überreizt und verspannt, müde, von einem langen Tag mit vielen Terminen, sogar das Quietschen der U-Bahnschienen hatte mich mitgenommen, setzte ich mich noch einmal an den Rechner. Ein paar Mails waren zu beantworten, eine Quelle im Netz zu suchen, dann aber konnte ich mich endlich ins Bett legen. Für den Abend war geplant zum Oranienplatz zu gehen, ein Open Air-Konzert, und später sich auf meinem Balkon zu versammeln, um die Konfrontationen auf dem Platz vor meinem Haus zu beobachten. Für den Oranienplatz hatte ich abgesagt, heute wollte ich nicht mehr raus, freute mich aber auf einen Besuch meiner Freunde. Sie werden anrufen. Ich schlafe. Gegen neun Uhr oder etwas später klingelt die erste Freundin. Sie besorgt sich noch etwas zu trinken und mir netterweise noch was zu essen. Geld ist knapp. In der Zwischenzeit ziehe ich mich an und zeige ihr dann als erstes meine Wohnung, sie war noch nie bei mir. Einige Zeit später, wir sitzen schon und reden, kommen die beiden anderen Freunde. Anfang Juni erscheint die Platte, die jetzt gerade läuft, einer der beiden Freunde hat mir das Rezensionsexemplar eines Kollegen kopiert. Und meint, als er sie beim Hereinkommen schon wieder bei mir hört: »Die gefällt Dir ja wirklich!«


Als wir zusammensitzen berichtet der andere Freund, er lebt als Journalist in London, über Restaurantbesuche und das Viertel, in dem er wohnt. Letzten Freitag ist unsere Freundin aus Tokyo zurückgekommen und erzählt deshalb Geschichten von Shopping, Schulmädchensex und Mobiltelefonen. Auf dem Platz noch alles ruhig. Keine Trommeln, keine Feuer, nur gelegentliche Mannschaftswagen der Polizei.


Noch vor Mitternacht muss die Freundin los, weiter in einen Club, in dem auch heute wieder Freunde von ihr auflegen. In der Tür verabreden wir uns noch lose für den nächsten Nachmittag, im Park, dem Café dort. Wir übrigen hören schließlich doch noch Lärm vom Platz. Auf dem Balkon stehend sehen wir einige kleinere Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei. Grelle Scheinwerfer zweier Fernsehteams leuchten das ganze ziemlich gut aus. Viel passieren wird hier aber nicht mehr. Ich möchte jetzt doch ganz gerne, ziemlich erschöpft von diesem langen, reichen Tag, wirklich ins Bett gehen. Die beiden Freunde machen sich auf den Heimweg.


Der Nicht-Londoner wird, wie er mir am nächsten Tag erzählt, bei seiner Straßenbahnfahrt zurück in sein Viertel noch aufgehalten, der Park in der Nähe ist Ort mittlerer Kampfhandlungen. Der Londoner dagegen wohnt bei mir hier um die Ecke, schon länger als ich, und meint noch, beim Treppenruntergehen: »Auf gute Nachbarschaft!«










III


Sie hatte Filmrezensionen für Onlinemagazine geschrieben. Zwei Monate lang hatten wir uns gekannt; danach wollte sie sich von mir trennen – ohne das geringste Anzeichen im Vorhinein? Im Urlaub, in Griechenland, zehn Tage lang verging kein Tag ohne Streit, mehrere laute, scharfe Wortwechsel, aber auch keiner ohne innige, heisse Liebe. Wir hatten das für gut so gehalten. Und am Ende, bei ihrem Lieblingsgriechen im Hafen, die Zeit nocheinmal Revue passieren lassend, hatten wir beschlossen: Damit sind wir jetzt durch. Ein neues Leben für Dich und mich.


Wir hatten beide so etwas noch nicht erlebt. Pläne für die Zeit danach, spürbare, tiefe und eindringliche Liebe, durch das Stahlbad zahlreicher Auseinandersetzung gegangen. Kaum wieder zurück in Berlin hatt sie mir dann kundgetan, sie müsse sich von mir trennen. Es ginge eben nicht. Wozu aber dann das alles? Unser Streiten völlig sinnlos? Doch nicht ein Weg, einander näher zu kommen, die Vereinigung? Das alles wegwischen? Entwertet; irrelevant. Umsonst.


Eine Zeitlang sahen wir uns noch, gemailt, Pressevorführungen, Premieren, Parties, gemeinsam in der Sonne gesessen. Am Ende aber nur noch die Vorwürfe, die sie mir machte, aus kleinsten Anlässen – als wolle sie etwas noch radikaler beenden.


Es ist Abend als ich darüber nachdenke, Frühabend. Ich habe sie dann, einige Zeit danach, nach einer unguten Begegnung, mit merkwürdigen Gesten ihrerseits, noch in einer E-Mail auf eine für mich beschämende Weise beleidigt. Was ich heute und jetzt bereue. Aber wohl notwendig war. Als Gelegenheit, dies alles auch wirklich zu beenden.


Ich bin erleichtert, stehe auf. Nach Telefongesprächen mit Freunden, die ich durch sie kennengelernt hatte, und deren Kontakt sie mir dann nachträglich noch verbieten wollte, nach Gesprächen mit diesen, neuen Freunden also, beginnt jetzt für mich der Abend. Ich fahre meinen Rechner herunter, trinke das Glas Wasser leer, und noch eins. Ziehe die Jacke über, Telefon in die Hosentasche. Gehe raus. Ja!










IV


Nach der Party standen wir noch lange auf dem Rasen des Freibades und dem Zementboden herum. Lange waren die Veranstalter schon dabei, ihren Kombi vollzupacken, mit Boxen, Gläsern, Lichtern und wir standen immer noch herum. Ein Mädchen war kurz auf dem Klo, wir anderen begannen, die auf dem Rasen ausgestreuten restlichen Eiswürfel, eine große Tüte voll, herumzukicken wie Fußbälle oder eher wie Eishockey-Pucks. Die Musik wurde wieder besser, so auch unsere Laune, die Eiswürfel glitzerten im Licht des am Boden liegenden, letzten Scheinwerfers. Schließlich gingen wir zum Auto des elektronischen Musikers und – wie er selbst von sich sagte – ‘PSI-Programmierers’. Gemeinsam mit den drei Niederländern, die wir heute abend kennengelernt hatten, ein Pärchen und das Mädchen auf dem Klo, fuhren wir in diesem Sternenkreuzer nacheinander alle nachhause.


Der Programmierer und ich, wir wollten eigentlich noch ein wenig herumlungern bei mir zuhause; doch im Küchenfenster der WG, die eine Straße weiter, neben meiner Wohnung lag, brannte noch Licht. Vor Kurzem hatte er dort einziehen wollen, als eine Art Nebenwohnung, doch war dies nicht nach den Vorstellungen der Vermieter; jetzt war er dort regelmäßig zu Gast. Die letzten Straßen war es schon immer dämmriger, immer heller geworden und jetzt konnten wir schon problemlos den Schriftzug ‘Bezirksamt’ auf der Klingel lesen. Wir läuteten, niemand machte auf und so gingen wir hoch ins letzte Stockwerk, auch hier öffnete niemand; wir hörten verwirrte Schritte und Gemurmel und sagten. »Wir sinds -« Eine junge Frau machte auf, deren Namen ich als ‘Melanie’ verstanden hatte. Setzten uns in die Küche, zu ihr, sprachen über Frankfurt, wo mein Begleiter erst gestern noch gewesen war, heute erst vor wenigen Stunden zurückgekehrt. Sprachen über Vierkampf der Frauen, den sie früher wohl ausgeübt hatte, über mögliche Orte einer Releaseparty für das neue Album ihrer Band. Das verlorene Handy des Programmierers, verschiedene Drogen.


Dann setzten wir uns auf den Balkon raus, langsam wurde es immer heller, die ersten Zeitungsausträger mit ihren quaderförmigen Rollwagen kamen vorbei, immer mehr Trams fuhren, Menschen standen auf. Als es sechs Uhr morgens war, war ich endlich auch müde genug. Er wollte noch reden, hatte um acht Uhr gleich einen Behördentermin, bei dem es um seine Existenz gehen würde, ich aber freute mich, wieder mal, auf mein Bett. Für den Aufenthalt in ihrer Wohnung bedankte ich mich und verließ die beiden. Ich freute mich, mit Schlafmaske noch einige Stunden in den Morgen hinein zu schlafen; und am nächsten Tag, also heute, an diesem Buch weiterzuarbeiten. Kaufte Croissants beim Türken-Bäcker – Gute Nacht.










V


Was soll ich von dem Laden halten? Ein Kuschel der Chef. Glatze, trainiert. Strangers have the best candy sagt sein T-Shirt. Die Serviermädchen sind kuschlig, die Gäste, Frauen, zeigen eine entschiedene Mannigfaltigkeit ihrer Stile. Mit meinem Lieblingsmöbelhändler sitze ich am Tisch, seine Freundin, eine Sängerin, der amerikanische Transvestit und Kirchengründer, ein deutscher Klangzerstörer fragen, was es heute gibt, was hat es gestern gegeben, ist das Essen heute gut? Wer ist sonst noch da? Möbelhändlers Freundin, Autorin für das Jugendmagazin einer Tageszeitung, bekommt ihre Suppe endlich und bittet um einen Löffel. Das Mädchen im rotweiss gestreiften Herrenhemd schiebt ihr mit einem überaus verbindlichen Lächeln den Löffel des Möbelhändlers zu. Sie verzieht den Mund. Ich zum Möbelhändler: »Wie eine Szenebetriebskantine, oder?«


Er lacht und nickt. Seine Freundin will weiter, telefoniert mit Freunden und Verkäufern, er wünscht sich ein Vollbad, fühlt sich krank, sie mault. Gegen zwei will ich gehen und meine zum Möbelhändler noch: »Ich find den Laden zwar gut, aber auf Dauer wird das dann doch ein Bisschen zu anstrengend, oder?«


»Du bist so ein blasierter Kerl«, fährt er mich an. »Woanders wären die Leute froh, sowas zu haben. Und du: ‘Nach dem ersten Mal ist der Witz aber raus!’« Ich muss lachen und ihm recht geben. Das ist wirklich albern.


Aber die China Restaurant-Deko, die erhitzten Rituale, Gewohnheiten, die mühsam beherrschte Selbstdarstellung, ausdrücklich desinteressiert auf Publikum schielend, das alles ertrage ich nicht jeden Tag in der gleichen Mischung. So wie ichs auch kaum ertrage, mich täglich immer an den gleichen Orten zu befinden. Die gleichen, sich einschleifenden Gesprächs- und Bekanntschaftsroutinen, ätzenden Kommentare, hohlen Nettigkeiten, die Ödnis der Gewohnheit. Das alles bedrückt mich. Denke an erzwungene Gemeinschaften mit Arschlöchern, früher. Wird mir schlecht. Depression auswegsloser Städte.


Ich bleibe da lieber zuhause. Also gehe ich doch. Geh zwischen den beiden Mädchen durch, die jetzt Gitarre spielen am Eingang. Freue mich über ihre Netzstrümpfe und Mascara-Malereien; freue mich auch über die angenehm unätzenden, unhohlen, überraschend wachen und lebendigen Menschen an der Theke im ersten Raum. Reden und Trinken. Ich gebe mehr Trinkgeld als sie im rotweissen Hemd erwartet hatte. Und freue mich über die freundliche Verabschiedung des Kellners, hohlwangig, der draussen, wie immer in vollendeter Haltung, vor dem Windfang eine raucht. Zum Taxi mit dem Gefühl: Gut!










VI


Wieder ein lauer Abend nach einem lang ereignisreichen Dienstag. Wieder hatte ich etliche Treffen und Gespräche, Seminare und Einkäufe hinter mir. Nach einem Mailen und Recherchieren zur blauen Stunde und dem Weiterschreiben an meinem Tagebuch im Netz, gehe ich kurz vor neun dann doch noch los zur kostenlosen Vorführung der Neuvertonung eines Collage-Stummfilms aus den dreißiger? zwanziger? Jahren.


Vor dem Eingang des Ausstellungsraums stehen viele Menschen. Ich bin unsicher, ob es innendrinnen, in den Räumen einer ehemaligen staatlichen Behörde der Deutschen Demokratischen Republik so voll ist – oder doch nur so langweilig. Ich kaufe ein Bier nachdem ich gesehen habe, dass sie den Film noch gar nicht abspielen. Älteres bis mittelaltes, gesetztes Publikum sitzt hier auf locker verteilten Stühlen im Hauptraum, der einem Atrium mit Dach gleicht. Ich stehe etwas herum, schaue die Menschen an, suche einen Stuhl, der nahe genug am Ausgang ist, so dass ich jederzeit ohne Aufsehen zu erregen gehen kann. Ich habe nicht vor bis zuletzt zu bleiben. Freue mich sogar schon, vielleicht gleich nach Beginn des Filmes, wenn die Neuvertonung sich als doch nicht so interessant erweist, zu gehen und weit vor elf Uhr wieder zuhause zu sein. Noch etwas zu lesen; ein Paar Mails zu schreiben. Kein Fernsehen mehr.


Der Film beginnt, die Musik wird eingemischt und ich bin überrascht und erfreut wie wenig vordergründig und subtil stimmig die elektronische Musik der zwei DJ’s den Film, den ich gut kenne, neu erscheinen lässt. Ohne plumpe Analogien flicht sich die Remixmusik in die schwazweisse Collage. Ich genieße es. Niemand, den ich kenne, ist hier.


Immer wenn ich meine, naja, jetzt wirds dann aber doch etwas langweilig; wenn das so weitergeht, gehe ich doch bald, immer dann verändert sich die Musik, der Track wechselt, angenehme, gelungen-beglückende Koinzidenzen und Atmosphären entstehen zwischen Musik und Bild. Ich denke an meinen Vortrag, der bis Ende nächster Woche fertig sein muss. Für ein Symposion von Medien- und Kulturwissenschaftlern. Der Kontrast des analogen Films zur digitalen Musik trifft genau die Frage meines Vortrages: Gibt es so etwas wie eine spürbare, wenn nicht gar erkennbare Signatur des Digitalen? Ich schweife ab, versuche aus den Wirkungen von Film und Musik Schlüsse über den grundsätzlich anderen Charakter digitaler oder analoger Bearbeitungstechniken zu ziehen.


Gegen Ende des Films – eigentlich zwar mehr in der Mitte, aber gegen Ende meiner Überlegungen anhand dieses Films – gegen Ende also wird dann genau das Stück in den musikalischen Fluss hineingemischt, mit dessen Vorführung ich meinen Vortrag wortlos einleiten wollte. Dessen erzählerische Ausdeutung am Ende stehen könnte. Passt alles zusammen. Gut, dass ich hier war. Ich trete aus dem Gebäude und mir fällt der Satz ein: Wieder ein lauer Abend nach einem lang ereignisreichen Dienstag.










VII


Schaue ich unter die Abdeckung, findet sich eine dunkle, toxisch-klebrige Masse darunter, in Ausdehnung begriffen. Wohltuende, zäh fließende Kommunion. Intimität? Als wäre ich hier richtig; weitersuchen! – Nur wo? Im Musikfernsehen lief das neue Lied des weissen Rappers, Vorabsingle aus seinem neuen Album. Es war still. Vollkommen still an diesem Tag. Alles ruhig. Aus dem Bus heraus hatte ich einen Feuerwehrmann und seinen Rettungssanitäter auf der Rasenfläche neben den Ausfahrttoren der Freiwilligen Feuerwehr sitzen sehen. Auf den bekannten, weissen Monoblockstühlen. Ich hatte das Trinken von Bier aufgegeben, aus Ekel.










VIII


Mitte des Lebens, Rückkehr der Schrift. Der Anus des Schokocroissants. Ein Silvesterabend. Ich bewohne ein Zimmer im linken, nicht im rechten Flügel der Staatsoper. Einige Freunde sind auch bei mir. Später am Abend fahren wir hinaus, auf eine Landgaststätte. Dort sitzen wir lange auf der Terrasse. Als ob dieses Jahr alles das wiedergutmachen wollte, was im letzten Jahr verkorkst worden war. Eine Einladung zu sich, für irgendwann einmal in ferner Zukunft ausgesprochen, ließ mich unwillkürlich ahnen: ich würde genau dann, an diesem Tag, krank und verhindert sein. Einige Zeit später hatten ihre Begrüßungsküsse dann eine ganz andere Zärtlichkeit mir gegenüber angenommen. Und so war ich hier. An seinen rechten Platz gefallen, alles. Oder ist es zu anmaßend, den eigenen Zweifel auch noch für überliefernswert zu halten?


Tischschach. Wir saßen in einem angenehmen Schweigen beieinander. Es konnte jemand teilen. Und das Verlangen danach blieb. Orgasmuskompliment. Keine Persönlichkeit zu haben, kein Objekt theoretischer Betrachtung mehr zu sein, unscheinbar. Was gedacht wird, zu denken; das Naheliegende zu tun. Weder abweichen noch aufreizen. Gar nichts besonderes. Das Besondere ist das Aufdringliche, das das Gewöhnliche verdrängen will. Es vernichten. Und wozu? Zentroide. Im Blick blanker Hass – Zielerfassung, Treffer Schläfen-, Stirnbereich, Kerbtier werden. Funktionale Verhärtung. Trauer, zerrüttet. Das Hindernis der Vereinigung im Mund. Klarheit, Erregung. Lachen. Tiefer innerer Ernst. In dieser Gemütsverfassung tritt Gott hervor, nicht ich. Immer weiter begehren; Andersheiten glauben; Anatomie. Und Authentizität.










IX


Am Rand eines Feldes stand ich. Über mir, das Dröhnen, wurde immer lauter, ohrenbetäubend. Pfeifton, rammte sich wie ein Düsenjet die Turbine eines Düsenjets in den Acker unter ihr hinein. Direkt neben mich. Bleiern tektonisch die Erschütterung.


Schlucke ich. Gehe trotzdem weiter; über den Acker, Brandgeruch neben mich sich setzend, hinter mir zurücklassend. Am Horizont das Restaurant, da wir verabredet sind. Ich gehe weiter und komme dort an. Sie wartet schon dort, meine schöne, zarte und zerbrechlich sehnsüchtige Frau. Wir lieben uns zwischen den Tellern und Tiegeln, in Saucièren und Bratenfonds lassen wir unsere Körpersäfte hineinrinnen, noch kennen wir uns kaum. Überschreiten leichthin die Grenzen zueinander, berühren unsere Körper mit zartem Nachdruck. Ein langes Spiel beginnt, Masken und Rollen der Geilheit, Spiel ohne Grenzen, das Jahre, Jahrzehnte, bis ans Ende unseres Lebens dauern wird. Meine Frau, Königin, Kaiserin. Eine große Selbstveränderung treibt uns beide aus uns selbst hervor. Eine Heirat. Ferien vom Ich.










X


Die Zahnärztin hatte mir gerade eine homöopathische Tablette in den Mund fallen lassen, zur Beschleunigung des Heilungsprozesses, wie sie ihrer Sprchstundenhilfe sagte, als das hypnotische Rattern eines Beatstücks aus den späten sechziger Jahren begann, aus den Lautsprechern. Jetzt ist alles gut, dachte ich. Die Gitarre empfängt mich. Ich döste einige Sekunden, Minuten, auf dem in die Horizontale gefahrenen Sessel; dann kam die Ärztin zurück und begann mit einem gelben Mundschutz bewehrt, den kranken Zahn herauszuhebeln, die Assistentin (die zuvor noch ihrer Kollegin erzählt hatte, der letzte Patient hätte zahllose Fragen gestellt, nur um ihr noch länger in den Ausschnitt zu starren), diese Assistentin hielt mir sanft, viel zu sanft, die Ohren zu.


Dann stand ich draussen, überlegte, wo ich mir die zur Auswahl stehenden Mobiltelefone bei der Vertragsverlängerung anschauen könnte, stand in der Filiale eines Remittenden-Weitverkaufs-Großhändlers; dort spielten sie Lieder eines berliner Elektronik-Pärchens, eingelegt von der Verkäuferin, sie sah so aus. Immer noch mehr, immer noch mehr, als es nötig wär. Denke ich an Dich. Stand ich im Laden herum, wohltuend absichtslos, die Titel der Buchrücken lesend. Phantasie durch Ziellosigkeit. In großformatigen, grotesk dicken Bildbänden, Frauen in Lack, fickende Homopärchen, präsentierte Schwänze und klaffende Mösen. Die Mädchen gefesselt, Männer unterwürfig – es war nicht schlau, doch uns war klar: wir sind ein tadelloses Paar. Schwer, dem Text zu folgen, mühte mich sehr, fühlte mich wohl hier. Ich kaufte einen Roman in zwei Bänden über die Romankunst des 19. Jahrhunderts und ging nachhause. Schwarze Plakate auf dem Heimweg warben für das Best-Of-Nirvana-Album, featuring the previously unreleased track: You know you’re wrong. Schrieb diese Zeilen hier; legte die neue Fehlfarben ein; Zeit blieb stehen – leicht.










XI


Milde und lindernd. Weich. Ich erinnere mich an die Künstlerin, große Scherenschnitte in Schwarz und Weiss ragten von ihr in den Raum hinein, eine gute Freundin, obwohl wir uns selten sahen – sie hatte zuletzt gemeint: »Der Herbst und Winter dieses Jahr wird bestimmt sehr schön, sehr weich, milde und innig werden.« Ich hatte ihr zugestimmt. Als wir zu viert, fünft auf der Bank saßen, vor dem temporären Ausstellungsraum, in dem die weiss silbrigen Arbeiten einer anderen Freundin zu sehen waren, nachts. Eine Linderung, wenn ich mich recht erinnere. Es war besser. Und nun verstehe ich schon kaum mehr, was kurz zuvor noch mich traurig gemacht hatte.










XII


Der Architekturtheorie- und Urbanistik-Buchhändler ist ein freundlicher Mensch. Ich habe ihn zuerst erlebt in seinem Buchladen und hinter Buchständen auf Konzerten oder Symposien, elektronische Musik, neue Theorie. Er trägt eine Halbglatze und verschmitzten Schnurrbart über der Oberlippe, stets ein reichlich ausdrucksloses Gesicht, dem jeder Sarkasmus, ebenso auch jede Zurechtweisung zuzutrauen ist. Dies, sowie die extrem aktualistische, übermäßig stilisierte Auswahl der Neuerscheinungen bei ihm, war wohl auch der Grund, weshalb ich mich zunächst kaum in sein Ladengeschäft traute. Und auch kaum in seine Nähe. Wähnte ich doch dort das Zentrum einer mir feindlich gesonnenen, exklusiv-hochselektiven Stil- und Theoriekungelei.


Näher erlebt habe ich ihn erst nach der Lesung eines Freundes in seinem Geschäft, deren Einführung ich sprechen durfte. Wir sprachen über die Grenzen direkten Eingreifens und Möglichkeiten kritischer Reflexion; eher lakonisch, flaxend, doch das Anliegen des anderen im Scherz erfassend. Erst ein zwei Wochen zuvor hatte ich ihn erlebt auf einer Ausstellung des hier ansässigen Kunstvereines, durch die ich mit eben demselben Freund hindurchgeschlendert war. Wir Schlenderer fanden sie reichlich albern und überkommen, er präsentierte jedoch mit seinem Kompagnon eine kleine Installation aus Photographien und Bindfäden. Wir hatten Spaß, kicherten und blieben bierernst – er dagegen meinte kopfschüttelnd, Gestus des gereiften Ahnen: »Ihr beiden …!« Nach der zuvor erwähnten Lesung saßen wir noch lange im italienischen Restaurant gegenüber seines Geschäftes, geführt von zwei freundlichen, jungen Mädchen.


Seither sehe ich ihn immer wieder. Gehe gern in sein Geschäft; habe die Scheu verloren. Und freue mich jedesmal, ihn zu sehen: bei Podiumsdiskussionen, etwelchen Bars oder Clubs, an der Kasse seines Buchladens. Der Architekturtheorie- und Urbanistik-Buchhändler ist ein freundlicher Mensch.