Wir


von Holger Schulze




(aus: mediumflow01 – Unser Kontinuum, 1996)




So standen wir also langsam auf. Hievten unsere Körper heraus aus den anderen, über die Kloschüssel, das Waschbecken, in die Küche hinüber. Auch andere vermochten wir aus ihrem Schlaf heraus zu uns zu ziehen, in den erkalteten Rauch, lauwarmen Alkohol hinein. Plangemäß mitternachts waren wir herumgestanden in Fußgängerzonen und Seitenstraßen, auf öffentlichen Plätzen, Landungsbrücken und Aussichtspunkten. Knallfrösche fielen manchen zwischen die Beine. Ein feines Zirpen, nervös unterbrochen, das Datensätze suchte. Wir saßen um einen kleinen, niedrigen Tisch herum, nach unendlich langsamen Handlungen. Hatten einander umarmt, die Menschen und Maschinen unendlich zärtlich geküsst. Den leeren Straßenbahnen, den Polizeistreifen beim Vorüberrollen zugeschaut. Fenster öffneten sich, nur um recht bald wieder sich schließen zu können. Fuhren wir am Nachmittag über Autobahnauffahrten, vom Nebel verbunden mit darüber führenden Bahnlinien. Vor uns Familienwagen, die sich zaghaft die viel zu breiten, viel zu neuen Autobahnen entlangtasteten. Standen in Kiosken auf internationalen Flughäfen, kauften Mode- und Musikzeitschriften, saßen in Zügen, hörten Platznachbarn von eben uraufgeführten Stücken reden. Erwarteten wir das Ende der Ladezeit. Gefunden, gesichert, Jahre waren vergangen. Unter uns drehte die Erde sich stetig weiterhin weg, durch die Feuerwerke hindurch. Kaum aßen wir etwas, tranken höchstens Kaffee, rollten abwesend verbrannte, gewellte Verpackungsreste zusammen. Dann war alles wieder still. Kein Zirpen mehr. Begannen, das kommende Jahr herbeizukauen, wohlig, guten morgen. Bewegungslos und zur Ruhe gekommen, in geostationärer Umlaufbahn. Rauschten flirrende Risse an uns heran; ein Klicken kehrte wieder. Central European Time, ein Stolpern und Rempeln. Fingen wir wieder an zwischen den Lautsprechern, mannshoch, zu leben. Die Irrfahrt hatte geendet und also wieder begonnen aufs neue. Der vereinbarte Friede war bis jetzt noch nicht gebrochen worden, zum ersten Mal seit dreieinhalb Jahren. Am Ende waren wir immer noch nicht angekommen. Vor Silvester, Moskauer Zeit, waren zweihundert Newsgroups gesperrt worden. Heiner Müller war an Krebs gestorben und in der Woche davor schon Konrad Zuse, an einem Herzleiden. In Ufa, Stadt im Südural, hatte ein Ölunfall sich ereignet; Gesamtklassement der Vierschanzentournee, zweiter Februar, sechs Uhr morgens. Fortwährend änderten die Worte ihre Gestalt. Groundhog-Day. Ein leichtes, kaum merkliches Erzittern. Von unten nach oben, ein Erschauern. So wie die vielfarbigen Darstellungen, änderten sich auch die Verbindungen zu anderen bildhaften Darstellungen. Masse, Macht und neue Mythen. Die Kraft politischer Legenden. Herbeisirrend von Ferne, ganz langsam; und schwingend schon wieder hinweggesirrt, hatten wir nun endlich von all den Liedern jeden Tag auch das Denken gelernt : den großen Gesang und den Puls. Konnten warten, lebend oder tot. Und immer noch waren wir die einzigen hier, an diesem einen Ort – dem Ort, an dem alle sich aufhielten, demütig und selbstgenügsam. Warteten auf die nächste Erscheinung, in der Ruhe und Abgeschiedenheit eines Wohlstands, unverdient. Schauten raus zum Fenster, kratzten Kopf und Ellenbogen, beschrifteten Datenträger, gingen aufs Klo, holten einen Kaffee und wechselten dann vielleicht doch noch die CD. Da die Sonne noch gar nicht aufgegangen war, höchstens vielleicht gerade unterging. Oder doch direkt von oben uns ins Hirn sich einbrannte. Teil unseres Lebens war das geworden, das eben doch noch verborgen war. Fühlten wir uns glücklich auf eine stille und zurückhaltende Weise. Zum ersten Mal vielleicht. Schien Wirklichkeit umstandslos greifbar. Sangen die Medien uns zu : I tangle my umbilical. There’s no need to be political. Let’s not get too serious. Just try / to stay / predictible.