Das Artefakt als Droge




Zur Tektonik des Addiktiven








von Holger Schulze








(Vortrag für die Tagung ‘Sucht – Rausch – Ekstase’ der Gesellschaft für Historische Anthropologie in Zusammenarbeit mit dem Interdisziplinären Zentrum für Historische Anthropologie, Clubhaus der Freien Universität Berlin, Berlin 19. Juni 2003)












Ich habe wieder angefangen zu trinken. Aus irgendeiner unbedachten Situation heraus.




Ein richtiger Vollrausch, das ist, als käme jemand in Deinen Körper zu Besuch und macht durch Dich Dinge, die Du selber niemals tun würdest –




und das sind schöne, unglaubliche Dinge; und Du genießt es.




Und Du wirst später davon erzählen, als hättest Du diese Dinge selbst erlebt und vollbracht.




Danach wirft er die leblose Puppe, die Du geworden bist, bei Dir vor die Haustür. [1]








Drogenleben





Selbstverlust und Selbstaufgabe, Wünsche nach Kontrollverlust und Fremdsteuerung. Eine Selbsterneuerungshoffnung spricht aus diesen Zeilen. Eine Erlösungs-, Erleuchtungs- und Erkenntniseuphorie. Die Suche nach der Einen, Substanz – dem einen, Wissen oder Wesen, das alles ändern könnte, alles auflösen würde: jedes Rätsel, alle Hemmnisse, jeden Zweifel. Sind wir süchtig, so suchen wir genau das: Die Wahrheit. Größte Droge für uns, irgendwo da draussen.



Sagen wir nicht, wir, die wir hier versammelt sind, wären ungefährdet. Sind wir nicht eher sogar besonders suchtgefährdet? Die Wissenschaften, leiden sie nicht sogar viel nachhaltiger, tiefgreifender an diesen messianischen Sehnsüchten? Zu kulturellen Formen auskristalliert in Bewertungskriterien, Peer-Reviews und Gepflogenheiten des Betriebs; in Methodologien, Übungskursen des Bibliografierens und Codices für gutes wissenschaftliches Verhalten: Maßnahmen allesamt, um den Drogenmarkt zu konsolidieren. Wahrheitsdealer wir – und Süchtige ineins.



Wir brauchen diese Droge, schätzen sie über alle Maßen. Genießen ihren Gebrauch. Auf chemische Substanzen ist Drogengebrauch schon lange nicht mehr begrenzt. Addiktives Verhalten kann sich auf viele Objekte, Personen oder Prozesse richten. Und: Mediale Artefakte sind derzeit die viel stärkeren, wuchtigeren Drogen. Weltweit verfügbar, unmittelbar wirksam, unbegrenzt zu dosieren in ihrer existenzverändernden Wirkung. Und zudem kaum kriminalisiert. Sie bilden Gemeinschaften, genau wie chemische Drogen auch; stabilisieren unsere Gesellschaften, konfirmieren diese durch gemeinsame Einnnahme der Droge – was auch für Chemisches gilt. [2] Nur: Diese Drogen, Objekte, Klangfolgen, Bildwelten, Sprachräume, sind unsere Lebensmittel. Ohne sie keine Kultur in den G8-Staaten und ihren Rohstofflagern, Absatzmärkten.



Mediale Drogen umfangen uns mit den Kräften ihrer Statik, ihrer Wirkweisen und Attraktionen, Einflüsse und Kraftlinien durchzittern uns, laufen durch unser hervorbingendes Handeln hindurch. Ihr Imaginarium, dieses Spannungsgebilde, folgt einer kunstvoll abgestimmten, beweglich gelagerten Tektonik aus Reiz und Entzug, Bestätigung und Wechsel. Schnellen Bewegungen und langwährender Vertrautheit.



Diese Lebensform trägt uns, auch in diesem Raum hier, jetzt. Es treibt uns an, hält uns am Leben, im Beruf, addiktive Artefakte zu suchen, zu begehren und der Genuss unserer Abhängigkeit, hingebungsvoll angenommenen, schafft eine Konzentration unserer Tätigkeit, eine stärkende Euphorie. So kostbar dieses Glück, so persönlich dieses Erleben, dass unser Umgang damit unwillkürlich sehr vorsichtig und präzise gerät, beharrlich und angemessen. [3]









Die addiktive Bezugnahme





Gibt es also eine gute Droge?



Genausowenig wohl wie es eine schlechte gibt. Wir erleben vielmehr: Diese kulturell tragende Form des Drogengebrauchs lässt uns Dealer und Produzierende als wohltätig erkennen. Freuden der Selbstaufgabe und des Entscheids zu einer Fremdsteuerung. Die Hingabe an Substanzen, Wesen, ausserhalb von uns. Zustände der Addiktivität.



Ein instruktives Modell, wie Spannungsverhältnisse in addiktiven Bezügen zu verstehen sind, finden wir gleichfalls ausserhalb der Süchte. Die klinische Hypnose [4] – mächtige Quelle in der Genese der Psychologie [5] – umfasst sowohl therapeutisch wirksame Praktiken als auch eine Begrifflichkeit zur Beschreibung von temporärer Abhängigkeit. Diese Form der Selbstaufgabe ist heilpragmatisch anerkannt, gesellschaftlich nobilitiert dadurch – ganz im Gegensatz zu alltäglichen, chemischen Drogen wie Kokain, Amphetamine und Haschisch, ganz zu schweigen von Alkohol, Koffein, Tabak.



Die Abhängigkeit eines oder einer Hypnotisierten von einer oder einem Hypnotisierenden beschreibt die klinische Hypnose als Rapport. Rapport nennt sie die Verbindung zwischen beiden, die mehr ist als nur eine konzentrierte Aufmerksamkeit aufeinander, ein Sich-Ineinander-Versenken oder eine Empathie. Die Lehrbuchmeinung, wie auch die Erfahrung der Hypnose-Praxis, zeigt, dass im abhängigen Zustand des Rapports die alltagspraktische Reserviertheit, die Skepsis, das Misstrauen gegenüber Vorschlägen, Handlungsanweisungen oder Einflüsterungen eines Gegenübers fehlt. Im addiktiven Bezug zu unserem Hypnotiseur glauben wir, was er sagt – und wir bemerken das sofort als ungewöhnlich. Doch meinen wir sehr genau zu wissen: Sie oder er, sie können uns nicht übel wollen. Wir vertrauen, bedingungslos, unbegrenzt, da genau nicht begründet in begrifflicher Abwägung.



Nicht kohärente Äusserungen, keine semantischen Überprüfungen oder konsistente Conclusio bringt uns zu unserer Übereinstimmung mit dem Gegenüber; wir gelangen jedoch in einen gemeinsamen Fluss haptischer, klanglicher, rhythmischer und visueller Intensitäten. Ein medialer Fluss etabliert sich, in dem beide Protagonisten, Hypnotisierende und Hypnotisierte, sich bewegen. Beide geben ihre Selbststeuerung auf – der Hypnotisierende etwas erfahrener, souveräner im Umgang damit -, ein gemeinsames, Aggregat des Handelns bildend, wechselseitige Hingabe.



Ein zusammenhängendes Spannungsgebilde, ein Fluss der Kohäsionen [6] bildet sich: Die Reaktionen des anderen ahnen uns voraus, Strömungsbewegungen, Oberflächenspannungen der Umgebung kennen unsere Seele; wir lassen uns von ihm oder ihr fahren, bedienen – als wären wir ein Fahrzeug mit anderem Fahrer. Falls der Weg dahin uns gut vertraut ist, gelangen wir in diesen Fluss durch widerstandsarme, liebende Konzentration auf unser Gegenüber, ansonsten hilft ein frappierender, die Wahrnehmung aufrüttelnder Stoß: Habitusformen grenzziehender Identitätsbildung werden darin kurzfristig ausser Kraft gesetzt und dieser Schock macht es leicht in einem Zeitriss der Unbeherrschtheit, unsere Indeterminiertheit in einen gemeinsamen Puls der Kohäsion zu überführen.



In der addiktiven Bezugnahme erleben wir uns – falls wir dies nicht ohnehin schon kennen – in einem Zustand gesteigerter Rezeptivität und Suggestibilität. Unser Spannungsabfall lässt Instanzen kritischer Bewertung ausfallen, nicht mehr Bedeutung von Gesten, Worten, Äusserungen bewegt uns, schon ihrer Obeflächengestalt, ihrer Spannung glauben wir. Wir glauben die Begeisterung, das Zögern des Anderen, übernehmen gedankliche, emotionale Impulse allein durch Kohäsion – Sind es doch unsere eigenen!



Unser Gegenüber entscheidet über unser Handeln und wir erkennen darin Erlösungs- und Erleuchtungserfahrungen. Berichte von Sinnessteigerungen und Bewusstseinserweiterung, fühlen uns auf leiblich tiefreichende Weise angerufen von ephemeren Reizen – physisch unmittelbar wirkt die Umgebung auf unser Handeln. Lassen uns führen.



Ist dies neu für uns, so erfahren wir eine beglückende, heilsame Entlastung von Selbstverantwortung. Genussreich fremdbestimmt fühlen wir uns am Ziel messianischer Suche angekommen. Wahrheit, Heiliger Gral. Parsifal. Droge. Faust.









Theoriedrogen





Addiktive Bezüge – durch chemische, mediale oder personale Drogen – legitimieren psychosozial einen Kontrollverlust. Wir dürfen von den Verantwortungs- und Konsistenzforderungen an unsere Person absehen, die der Aktivitäts- und Autonomieimperativ sonst vorgibt. Erleichtert dürfen wir uns hingeben, aufgehen in Wonnen der Fremdsteuerung und Abhängigkeit. Zu selten erfüllte Heilserwartung, immanent erlebte, transzendierende Erfahrung.



Wie aber geraten wir in einen solchen addiktiven Fluss hinein? Wie erzeugen Produzierende von Artefakten solche Spannungsgebilde, die unmittelbar addiktiv auf uns wirken? Uns in kohäsiven Fluss, beglückenden Kontrollverlust hineinführen? Welche Kräfte wirken in einer Tektonik des Addiktiven?



Die Liste süchtigmachender Objekte und Werke, Texte und Personen, die wir untersuchen könnten, ist lang. Ich wähle einen Typus von Artefakten, der an diesem Ort hier dominant ist: das Theorie-Artefakt. Die Wirkweise solcher Artefakte möchte ich jedoch nicht nur begrifflich ableiten. Um die Erfahrung des Drogengebrauchs gleichfalls nachvollziehbar zu machen, werde ich fortfahren mit der in diesem Vortrag bislang schon angewandten Darstellungsform der Theorie Erzählung [7] : Persönlich werde ich davon sprechen, wie ein bestimmter Theoriedrogen-Typus abhängig macht, welche Erzählungen darin die Sucht, die Heilserwartungen, Erlösungshoffnungen anreizen können – und wie dies ein Teil des idiosynkratisch fortschreitenden Theoriebildungsprozesses ist.





*





Zum Zeitpunkt ihres Erscheinens, etwa in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts, hat dieser Typus der Theoriedroge eine weitreichende öffentliche Wirkung gehabt und Suchtepidemien ausgelöst, die bis heute fortwirken. Im deutschen Sprachraum etwa durch Grammophon – Film – Typewriter [8] von Friedrich Kittler (1986) oder Peter Sloterdijks Kritik der zynischen Vernunft [9] (1983); Christina von Brauns Nicht-Ich (1985) ebenso wie Klaus Theweleits Männerphantasien (1977) oder sein Buch der Könige (seit 1991). Der deutsche Sprachraum soll mein Untersuchungsgebiet bleiben; fremdsprachige Beispiele, ihre Vorbilder waren mir damals noch kaum bekannt.



Bleiben wir bei Kittler und Sloterdijk. Beide Artefakte beginnen mit einem frappierenden Stoß:



Medien bestimmen unsere Lage, die (trotzdem oder deshalb) eine Beschreibung verdient. [10]


Und Sloterdijk:



Seit einem Jahrhundert liegt die Philosophie im Sterben und kann es nicht, weil ihre Aufgabe nicht erfüllt ist. [11]


Ein Schlag vor den Kopf, gestoßen in den Puls, den Puls des Autors – ein neues Kontinuum. In Trance, in der Horizontalen. Schon die Titel dekonstruieren ihre Vorbilder, zynische Vernunft – oder die Begriffs-Reihe, frappierende Neologismen unterlaufen jede Erwartung an argumentative Linearität. Hier gelten andere Gesetze!



Voller Heilserwartung, Abenteuerlust, öffneten wir diese Drogen, überließen uns gerne der Fremdsteuerung durch eine andere Stimme: Andere Ontologien und Methodologien, unvertraute Begriffsfiguren wurden suggestiv mit einer Macht und Autorität vorgetragen und hergeleitet aus dem Substrat der uns bekannten Welt. »Zynismus im Weltprozess«, »physiognomisches«, »phänomenologisches«, »logisches« und »historisches Hauptstück« [12] – Diogenes, Kant und die Apokalyptik des zwanzigsten Jahrhunderts. »Verkabelung«, »Akustische Spurensicherung«, »Goethe spricht in den Phonographen«, »Lacans Trickfilm«, »Nietzsches Schreibkugel und seine Sekretärinnen« [13] : Eine fremde, für uns, in den achtziger Jahren jung, frappierend-addiktive Welt.



Nicht nur in diesen Theorie-Artefakten erfuhren wir eine Neudeutung der Philosophie- und Theoriegeschichte, gegen den Strich. Die Unfähigkeit von Philosophie und Theorie insgesamt wurde feststellt – genau in dieser Feststellung der Unfähigkeit jedoch performativ sofort wieder überwunden, eine neue Philosophie und Theorie uns vorgeführt, erlebbar gemacht: Im Fluss von Neu-Erzählungen und Anekdoten, Begriffszergliederungen und Referenzen, neu hervorgeholten Unterströmungen der Geschichte und bislang geringgeschätzten Aspekten, der Einbezug naturwissenschaftlicher, esoterischer, erfahrungsbezogener und literarischer, intrikat technischer Wissensformen.



Fasziniert von diesem suggestiven Strom, diesem sanften, aber bestimmten Puls der Erzähler- und Erzählerinnenstimmen, wie neu, von Anfang an, geleiteten uns diese Drogenproduzenten und Dealer in ihre Denkartefakte hinein, ihre Theoriedrogen. Ostentativ und eklektisch wurde ein medialer Fluss an- und abschwellenden Medienwechsels in den achtziger Jahren erprobt, eine Offenbarung, eine Öffnung: Die Urheber begaben sich mit uns, theoretisch und erzählend in eine Nicht-Theorie-Welt hinein, streuten Illustriertentitel und Schaltpläne in ihre Texte, historische Karikaturen, antike Skulpturen, Werke der klassischen Moderne, der Popkultur, banden sie an Anekdoten und berichtende Selbstreflexionen, Referate avancierter Theorie, aphoristische Provokationen – ein pulsierender, gemeinsamer Strom des Begehrens. Die Wahrheit versprechend, ihren heissen Atem uns spüren lassend, sie wieder sich entziehend fühlen; angefixt.



Unversehens übernahmen wir Begriffe und Protagonisten, Traditionslinien und Denkfiguren in unser eigenes Sprechen, unseren kohäsiven Fluss; vielleicht kaum die Kohärenz, die begriffliche Konsistenz dieser Theorien auch nur im Ansatz durchdringend. Glaubten, einer überraschenden, letztlich aber vertrauenswürdigen, von Autoritäten getragenen Tektonik zu folgen (Goethe, Kant, Nietzsche, Diogenes) – und wurden sukzessive abgeführt, verführt, eingeübt in ein anderes Spannungsgebilde. Die neue, addiktive Tektonik, das Denken und Darstellen des Urhebers. Sein oder ihr Kontinuum.



Ein Kontinuum, in dem sich, wie in der Hypnose, auch der Produzierende selbst hinreichend weit abgegeben hat. Denn wissenschaftliche Begierden und Obsessionen, Idiosynkrasien und Indolenzen wurden nicht camoufliert, sondern als motivierende Schwächen der Urheber für ihren sprachlichen Puls der Erkenntnis nutzbar gemacht. Die neue Tektonik entstand aus diesem Druck des Erkennen- und Wahrheit-Wollens im Wechsel mit dem Lösen und Einschwingen in andere Partikular-Erzählungen. Persönliche Verletzbar- und Dekonstruierbarkeiten wurden vorgezeigt – zugleich aber souverän überformt vom Erzählen dieser Suche. Theorie Erzählungen sind solche Drogen. Kein Heil, keine Wahrheit bieten solche Textformen, aber suchen sie! Versprechen, sie mit ganzem Herzen und ganzer Wucht zu suchen und ihr Entweichen darum umso deutlicher erfahrbar zu machen. Sie weisen – so etwa in einem von Sloterdijk bei Nietzsche geborgten Ton -, höchst verführerisch jede Verführungs-Absicht von sich, mit einer Bescheidenheit, die Begehren unmittelbar identifikatorisch weckt. Vertrauen in die Autorität, die sagt:



Ich verspreche, nichts zu versprechen, vor allem keine Neuen Werte. [14]








Mediale Tektonik





Artefakte in medialen Räumen stehen und entstehen nicht isoliert. Ihre Urheber bewegen sich in den Bedürfnis- und Überdruss-Feldern der jeweiligen Gegenwart. Sie empfinden diese ebenso wie ihr potenzielles Publikum, wissen um die Reizthemen und -worte, die Bewegungen des Denkens, die diese beglücken könnten, Gegenstände und Beispiele, Traditionen und Protagonisten, die erlösungshaft wirken. Dieses Spannungsfeld aus implizit Erwünschtem und explizit Abgelehntem eines bestimmten Rezipienten-Kollektivs bildet eine mediale Tektonik, in der wir uns in jedem Moment bewegen. Auch hier und jetzt.



Drogenproduzenten erkennen diese situativ-statischen Gesetze medialer Tektonik als naturgesetzhaft an. Sie haben nicht das Ziel, gegen dieses Strömungskontinuum anzukämpfen, das von vielen tausenden, millionen oder gar milliarden Personen aufrechterhalten wird, ein mediales Kollektivwesen. Sie werfen sich nicht direkt gegen diese Tektonik von teils globalen Ausmaßen. Vielmehr gelingt es ihnen, sich in einem Gestus der Rebellion und der Reinterpretation sich als neuer Pfeiler, neue Kraftreserve und Richtkraft dieser Tektonik in dieselbe bruchlos einbauen zu lassen. Die einzige Art, in medial-artifzialisierten Gesellschaften der Gegenwart, Wirkung zu erlangen. [15]



Sie machen den kohäsiven Fluss der Tektonik zu ihrem eigenen, sprechen mit der Sprache des großen Kontinuums, standing on the shoulders of giants – und flechten dorthinein ihre Anliegen, Empfindungslagen, Desiderate und Neu-Erzählungen, denen sie Resonanz, also mediale Ausbreitung wünschen. Sie nutzen die bestehenden kohäsiven Ströme und Autoritäten, die medial ansprechbaren, globalen oder lokalen Erregungen als Trägerwellen, denen sie ihre eigenen Sehnsüchte und Erkenntnis- oder Erlösungswünsche mitgeben, unausgesprochen.



Es entstehen Artefakte, die Hoffnungen und Erwartungen des medialen Kollektivs in sich aufgenommen haben, als Identifikationsobjekte sich anbieten – und damit zur Droge werden. Charisma entfaltet sich, Kreise von Süchtigen und Abhängigen scharen sich, verbreiten die frohe Botschaft von der Droge. Der Produzent der Droge ist aber abhängig. Wird konstituiert von seinen Süchtigen.



Es gibt kaum einen anderen Weg der Wirksamkeit. Wer im Einklang der medialen Tektonik sich zu agieren weigert oder sich nur unmerklich einfügt, wird nie als Rebell, Widerstandleistender oder Original wahrgenommen – sondern schlichtweg gar nicht. Für die Tektonik, für das mediale Kontinuum sind diese Personen nicht vorhanden. Die Tektonik war stärker als er oder sie.





*





Und ausserhalb, draussen vor diesem Drogenleben; gibt es dort noch etwas?





Ja; ein Verhalten, das weder Kultur konstituiert noch Zivilisationen; geboren aus Ruhe, Gelassenheit derjenigen unter uns, die wir dann wohl erleuchtet nennen müssten.





Handeln, das kaum beeindruckt, nicht spektakulär. Ohne öffentliche Wirkung; intim. Quietistisch.





Gelöste Gespräche, am Abend, am Morgen. Nicht in der Tektonik des Betriebes aber.





Undramatisch, langweilig, öd.





Ohne Anziehungskraft – Die größte Herausforderung. [16]











Fussnoten


[1] Aus dem Netznotizbuch: http://www.subjektivation.de


[2] Vgl. hierzu besonders eindrücklich: Einar Schleef, Droge Faust Parsifal, Suhrkamp Verlag Frankfurt/M. 1997


[3] Tragende Unterströmungen und assimilierte Selbstrevisionen verdankt dieser Vortrag drei Gesprächspartnerinnen: intensivem E-Mail-Wechsel mit den wiener Kulturwissenschaftlerinnen und Mitherausgeberinnen der Zeitschrift sinn-haft Else Rieger und Karin Harrasser, sowie einem andauernden Gespräch mit der berliner Medienkünstlerin Marit Neeb.


[4] Ich beziehe mich in meinen Ausführungen zur klinischen Hypnose von theoretischer Seite her auf das Standardwerk von Dirk Revenstorf (Hg.), Klinische Hypnose, Springer-Verlag Berlin New York 1990 – und in meinen erfahrungsbezogenen Verweisen auf Selbstexperimente und Gespräche mit dem Psychologen Dr. rer. nat. Guido Kusak.


[5] Vgl. hierzu das epochemachende Werk von Henry F. Ellenberger, The Discovery of the Unconscious. The History and Evolution of Dynamic Psychiatry, Basic Books New York 1970 (dt.: Die Entdeckung des Unbewußten. Geschichte und Entwicklung der dynamischen Psychiatrie von den Anfängen bis zu Janet, Freud, Adler und Jung, Diogenes Zürich2 1996)


[6] Definiton und Reichweite dieses zentralen Begriffes einer Theorie der Werkgenese wird dargestellt in: Holger Schulze, Das aletorische Spiel. Erkundung und Anwendung der nichtintentionalen Werkgenese im 20. Jahrhundert, Wilhelm Fink Verlag München 2000, S.23-25


[7] Zum Begriff der Theorie Erzählung: Holger Schulze, Theorie Erzählung, in: ders.: Heuristik. Theorie der intentionalen Werkgenese− Theorie der Werkgenese, Bd. 2., transcript verlag Bielefeld 2005, S. 7-25; ders., 8] Friedrich A.Kittler, Grammophon Film Typewriter, Brinkmann & Bose Berlin 1985


[9] Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, Suhrkamp Verlag Frankfurt/Main 1983


[10] Kittler 3


[11] Sloterdijk 7


[12] Alle Zitate: Sloterdijk 955-999


[13] Alle Zitate: Kittler 429

[14] Sloterdijk 29


[15] Wer dagegen in einem kleinen Moment der Selbstüber- oder Fehleinschätzung des Kontinuums verstößt und im Jahre 2001 etwa Heidegger – in der reduzierten Wahrnehmung des medialen Kontinuums – auch nur ansatzweise als Fürsprecher der Gentechnologie erscheinen lässt oder die Waffenindustrie des Jahres 2003 als ein gesellschaftlich nützliches Gewerbe bewertet, wird vom Rezipienten-Kollektiv umgehend dafür geahndet. Die Rolle des Protagonisten verändert sich, zumindest kurzzeitig, vom schöpferischen und exzeptionellen Denker zum etwas abseitigen, im negativen Sinne idiosynkratischen Publizisten.


[16] Was es heissen könnte, diese Herausforderung tatsächlich anzunehmen und ein im Gegenzug zum spektakulären Agieren in der Öffentlichkeit alter-natives, d.h. ‘anders geborenes’ Leben des Öden zu führen, das durch ein fades Handeln und Denken viel weitreichender wirkt, dies untersucht der französische Sinologe und Philosophe François Jullien. Vgl.: Éloge de la fadeur. A partir de la pensée et de l’esthétique de la chine, Arles 1991 (dt.: Über das Fade – eine Eloge. Zu Denken und Ästhetik in China. Aus dem Französischen von Andreas Hiepko und Joachim Kurz, Merve Verlag Berlin 1999); Traité de l’efficacité, Paris 1996 (dt.: Über die Wirksamkeit. Aus dem Französischen von Gabriele Ricke und Richard Vouillé, Merve Verlag Berlin 1999); Un sage est sans idée. Editions du Seuils Paris 1998 (dt.: Der Weise hängt an keiner Idee. Das Andere der Philosophie. Aus dem Französischen von Markus Sedlaczek, Wilhelm Fink Verlag München 2001).