Die mediale Persona




Zur Tektonik des medialen Imaginariums








von Holger Schulze






(Vortrag für das Symposion Intimität – Medien – Kommunikation: Erstes internationales interdisziplinäres Symposion zum Liebesdiskurs, Museum für Kommunikation Frankfurt am Main 21. März 2003)








Von Ferne sehen wir eine fremde Person. Zum Beispiel in einem professionellen Zusammenhang, Geschäftsessen, ein offizieller Empfang, vielleicht eine Tagung. Aus Anlass dieser Begegnung erinnern wir uns an ein Foto. An einen Namen, einen Text, einen vorherigen öffentlichen Auftritt. Erinnern wir uns an nichts, so kommen uns doch gleichartige Begegnungen in den Sinn. Begegnungen mit Personen ähnlicher Physiognomie, vergleichbarem Temperament, mit Kleidungsstilen, Haltungen und Dispositionen, die wir hier wiederzuerkennen meinen.



Doch wir kennen diesen Menschen nicht. Und trozdem haben wir unmittelbar einen bestimmten Eindruck von ihm, von ihr, eine deutliche Vorstellung von der Person, die uns hier gegenübertritt. Wir können von nun an über sie sprechen. Obwohl sie uns weiterhin unbekannt bleibt. Wir hören das Gespräch, das ihr vorausgeht oder nachläuft.





Mediale Räume



Die erste Begegnung mit einem Menschen geschieht aus der Ferne. Persönliche, private oder gar intime Situationen folgen nach. Es sind offiziell-distanzierte, professionelle, gesellschaftliche Selbstdarstellungen, in denen wir Andere erleben und Andere uns. Momente, da wir einander vorstellen, unbekannte Menschen auf medialer Bühne.



Eine Bühne, die weder an technische Aufzeichnungs-, noch Übertragungsapparate gekoppelt ist, sondern an eine Aufmerksamkeit, die die Anwesenden auf jede neu auftretende Person projizieren, aktuell oder virtuell. Solche Momente medialen Auftretens bündeln Interessen und Erwartungen der Anwesenden auf engstem Raum, in eng begrenzter Zeit. Ein Übermaß an Spannung entsteht, oft kaum erträglich für Protagonisten und Publikum.



Orte medialer Übertragung existieren nicht isoliert. Andere mediale Räume sind ihnen vorgelagert und wiederum andere folgen ihnen nach. Auftritte einer medialen Persona werden vorbereitet durch Auftritte in anderen medialen Räumen. Durch Vorankündigungen oder Interviews, Kurzbiographien oder Publikationen. Gesprächsweise Erwähnungen, einführende Worte.



Ankündigung und Nachhall verbinden diese medialen Räume miteinander durch ihre wellenförmige Ausbreitung. Gerüchte und Kolportagen, gelangweilte, üble oder begeisterte Nachrede. Myriaden von Partikularerzählungen hüllen jeden Menschen ein, bilden als Kollektiverzählung eine narrative Aura um uns. In jedem Moment wird eine soziale Existenz von diesen Erzählpartikeln umschwirrt, meist locker und ungezwungen. Verdichtungen entstehen im Umfeld medialer Auftritte, das Gespräch wird reger, Sätze über Protagonisten schwingen sich auf einen semantischen Gehalt, eine mehrheitlich affirmierte Beurteilung ein. Eine Kollektiverzählung über diese Person entsteht. Lose Erzählfragmente, verdichtet zu einer Figurenskizze.



Ein starkes Dispositiv ist dieser mediale Raum. Die Aufmerksamkeit der Beteiligten einer solchen Situation konzentriert sich auf die Protagonisten öffentlichen Handelns bühnenartig. Der prozessuale, interaktionistische und fluide Charakter menschlichen Handelns wird fast verdeckt von seinen exemplarisch aufgeladenen, ja demonstrativ werkhaften Anteilen. Unsicher suchende Menschen werden zu medialen Personae, eine Selbstartifzialisierung findet statt.





Die Tektonik des Imaginariums



Die Abfolge medialer Räume ist ein Imaginarium.



Hervorgebracht durch die Aufmerksamkeit und Erwartung einer Umgebung, fokussiert es sich auf die Kohärenz einer Persona und ihrer Handlungen, es honoriert ihre Distinktheit und Interpretierbarkeit, es sanktioniert Undeutlichkeit, Verwaschenheit. Eine Darstellungsspannung um diesen Auftritt herum bildet sich, eine psychische Tektonik der Aufmerksamkeit.



Dieses Spannungsgebilde ändert sich situativ und prozessual und übt als Äusserung des medialen Dispositivs einen starken Druck auf jeden Protagonisten aus. Regulierend und disziplinierend, sich an einer Stelle verdichtend und an anderer wieder auflösend. Die Tektonik eines medialen Raumes ist seine spezifische, räumlich-soziale Anspannungsformel, die sich tatsächlich auf die konkreten Handlungen jedes Einzelnen im Rahmen sozialer Kohäsion auswirkt. Handlungen und Haltungen, Bewegungen und Vollzüge sind eingespannt in Kollektivreaktionen, die wir als Protagonisten genauso machtvoll in uns empfinden wie als Publikum. Wir entscheiden nicht darüber, ob wir zustimmen oder Widerstand leisten sollen. Sondern wir sind in allen, in großen und kleinen, elektrifizierten oder unmittelbaren medialen Situationen einer nicht-sprachlichen Kollektivspannung unterworfen, zu der wir selbst maßgeblich beitragen.



Dieser hochgespannte Erwartungsraum bringt im kollektiven Gespräch, durch Interpretation und Urteil eine verbindliche, mediale Erzählung der Handlungen einer Persona hervor. Die nicht-sprachliche Tektonik übersetzt sich hier – soweit sie interpretierbar ist. Handlungen, die einer Deutung sich entziehen oder dem Vorrat an Erzählungen sich widersetzen, werden dabei übersehen oder als krank oder irrelevant oder neurotisch ausgeschlossen.



Diese medial notwendige Bedingung der Interpretierbarkeit limitiert die Möglichkeiten wirksamen Handelns. Ein höheres Maß an Direktheit, Deutlichkeit und Distinktheit wird notwendig um in medialen Räumen Wirkung zu erreichen als etwa in den höchst seltenen Situationen, da die Darstellungsspannung nachlässt und intime Gelöstheit sich einstellt. Äusserungen, die sich nicht in die Kollektivtektonik einbauen lassen und darart darin behaupten, verschwinden im fahrig verwischten Hintergrundrauschen des Sub-Medialen. Ein Effekt massen- oder gruppenpsychologischer Theatralität.



Erzählungen bilden sich somit heraus, die die umstandslose Interpretabilität ihrer Protagonisten fordern; und zugleich doch bevorzugt nach überraschenden, schwer deutbaren und nur darum erzählenswerten Wendungen der Handlung suchen.





Imaginarium der Wissenschaften



Wie ist es also möglich, diese Kräfte kollektiver Aufmerksamkeit zu nutzen und eine mediale Persona auszubilden, die nicht allein Servomechanismus des Dispositivs ist? Sondern als existenzgewordener Ausdruck der Vitalität eines Lebens erfahrbar wird? Wie gelingt mediale Repräsentation individueller Bedürfnisse? Um diese Fragen zu beantworten möchte ich zwei Beispiele solcher Erzählungen aus dem Feld der Wissenschaften näher betrachten.



Die erste Erzählung handelt von der Entdeckung der DNA-Doppelhelix im Jahre 1953. Derzeit in Monographien und Presseartikeln zum fünfzigsten Jahrestag verbreitet, stellt sie ihre Protagonisten als glückliche Dilettanten dar. James Watson und Francis Crick, so die Erzählung, seien zu jenem Zeitpunkt wenig studiert in Physik und Chemie gewesen, etwas zerstreut und fahrlässig und wohl insgesamt eher an Ale und Frauen interessiert als an der korrekten Anwendung ihrer Fachkenntnisse. Als Autoritäten werden ihr Institutsleiter Sir Lawrence Bragg zitiert, sowie Erwin Chargaff. James Watson erscheint als ewig schlaksiges Wunderkind, das »irgendwie an einen der Schusterjungen aus Nestroys Lumpazivagabundus erinnerte.« Francis Crick wird zum Unikum mit »dröhnendem Lachen« und »hohe[r], erregte[r] Stimme, eine nie ermüdende Pikkoloflöte.« [1]



»Seit 35 Jahren«, so Bragg 1951, »hat Francis nun schon ununterbrochen geredet, und bisher ist so gut wie nichts von entscheidendem Wert dabei herausgekommen.« [2] Die Szenerie steht bereit. Der rhetorische Effekt, daraufhin nun den Glücksfall der Entdeckung zu erzählen, könnte kaum größer sein.



Es wäre voreilig, diese erzählerisch höchst dankbare Stilisierung allein journalistischen Erzählern oder Watson und Crick selbst zuzuschreiben. Die dramatische Zuspitzung zum Antagonismus professionell-arrivierter Autoritäten einerseits und sträflich unterschätzter Doktoranden andererseits ist vielmehr schon, wie uns die Erfahrung lehrt, in der institutionell vorgegebenen medialen Situation angelegt. Nicht erst Pressekonferenzen oder Interviews, schon der Alltag in einem Forschungsinstitut, zudem einem derart angesehenen und ambitionierten, erzeugt einen medialen Druck, der eine profilierte Persona hervorbringt. Die Umgebung befördert eine Akzentuierung differenzierender Merkmale.



Fehleranfälligkeit und Turbulenzen im Handeln von Watson und Crick erscheinen als Ausweis ihrer menschlichen Qualitäten – ganz im Gegensatz zum pflichtschuldigen Procedere ihrer Kollegen. Fachlich mögen diese Mängel ihnen schaden, sozial bieten sie einen kaum zu unterschätzenden Gewinn an Selbstdarstellungsmöglichkeiten. Ihre Fehler und Ticks zu erzählen, scheint interessant.



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Die mediale Persona der zweiten Erzählung trägt den Namen Slavoj Zizek. Die Handlungsturbulenzen ihrer Auftritte finden sich, zwar polemisch, doch recht anschaulich, wiedergegeben in einem Artikel in der Zeitschrift Merkur:



Man muß den manischen Redeschwall seiner Vorträge erleben, die er unter expressiven Gesten hervorstößt, immer ein bißchen beängstigend und charmant zugleich, sein eloquentes Englisch gewürzt durch eine mitteleuropäisch harte Akzentuierung. Die Aura des wilden Mannes vom Balkan ist wichtig, wenn nicht entscheidend für die Aufnahme seines Werkes in Westeuropa und Amerika. Blass, mit struppigem Haar, dunklen Augenringen und Bürgerrechtler-Vollbart gibt er sehr eindrucksvoll den philosophischen Zungenredner, der direkt aus dem Unbewußten Europas entsprungen zu sein scheint. [3]


Der Autor wird hier sehr persönlich. Doch nicht persönlich genug. Übergeht er doch just jene Details, die Zizeks Persona vom üblichen Personal akademischer Symposien unterscheiden. Die nervösen Gesten, obsessiven Handlungsroutinen erwähnt er nicht, auch nicht die argumentativen und sozialen Selbstverstrickungen in Höflichkeit und Intersubjektivität, die Zizek in eigener Sache stets thematisiert.



Der Autor umgeht diese Verhaltensweisen, da sie von der Tektonik des medialen Raumes der Wissenschaften sanktioniert werden. Die gravitätische Selbstgewissheit und -beherrschtheit, die das Kollektiv honoriert, findet sich kaum bei Zizek; dagegen lässt seine Persona ihre situativen Unsicherheiten und Fahrigkeiten, Momentbedürfnisse und Empfindungen in Zwangshandlungen durchdringen. Ein Bereich des persönlichen, des medial schwer zu repräsentierenden Verhaltens wird dominant, der gemeinhin als inkommensurabel gilt. Als peinlich und disqualifizierend.





Mediale Persona und intimes Verhalten



Eine mediale Persona ist das erste, das wir von einem Menschen wahrnehmen. Ob er ein Star des Wissenschaftsbetriebes ist oder nur ein neuer Kollege im Zimmer neben uns. Es sind jedoch Äusserungen intimen Verhaltens, die in den beiden soeben untersuchten Erzählungen, eine Person medial distinguieren. Die institutionell und medial souveräne Person wird in solchen Handlungen angebrochen und perforiert. Sie ist nicht mehr konsistent erzählbar, es mischen sich schwer zu deutende Bedürfnisse und Empfindungen, Obsessionen und Neurosen mithinein, die nicht mehr sachlich, nur noch ad personam zu deuten sind.



Diese momenthafte Auflösung stabiler und abgeschlossener Personae in einem von Selbstwidersprüchen und Unbeherrschtheiten charakterisierten Handeln des Intimen ermöglichen erst die Annäherung an diese Person. Handlungen, die zuerst nicht im Hinblick auf ihre Darstellungswirkung entstehen, sondern aufgrund intimer Bedürfnisse, die sich Darstellungen entziehen, bilden Heterotopien im Strom des Üblichen. Genau das aber macht sie zum erzählens- und nachfragenswerten Angriffspunkt für eine Annäherung.



Ereignen müssen sich diese intimen Irritationen allerdings vor dem Hintergrund großer Souveränität im Umgang mit medialen Situationen. Nur in diesen Fällen steigern sie die mediale Wirkung ihres Protagonisten. Fehlt diese Souveränität, wirkt das gesamte Handlungskontinuum der Person als fremdartig und undeutbar. Eine mediale Persona, die sich wiederum auf erleichternde Weise als labil und nicht-funktionalisierbar erweisen könnte, kann gar nicht erst ausgebildet werden.



Erzähler solcher Personae meinen, sich mit ihren Beschreibungen auf Protagonisten des medialen Imaginariums zu beziehen. Doch treffen sie nur Aussagen über Menschen, die keiner von ihnen kennt. Sie beziehen sich auf gedruckte Sätze, geschnittene Aufzeichnungen, inszenierte Photographien, geplante Auftritte. Artifizielle Quellen, die als Indizien und Zeugnisse zu unbekannten Existenzen benutzt werden und doch nur deren Repräsentationen im Kontinuum des Medialen hervorbringen.



Solche Erzählanlässe zu bieten und das eigene Handeln sich von intimen Turbulenzen unaufgeregt stören zu lassen – die Glättung zur medialen Persona sich also von nicht-medialen Haarrissen durchziehen zu lassen -, dies ist die einzige Möglichkeit für Protagonisten des medialen Kontinuums, zumindest das Ausgangsmaterial der Geschichten, die über ihn erzählt werden, mitzubestimmen.



Die Deutung, die das mediale Kollektiv allerdings nachfolgend vornimmt, die Skepsis, ob eine intime Irritation nicht doch nur höchst clever kalkuliert war und tektonische Verschiebungen gegen ein Individuum zur Folge haben kann – all dies bleibt dem Einfluss einer medialen Persona entzogen.








Fussnoten

[1] Werner Bartens, Clowns im Labor, in: Die Zeit 58 (2003), Nr.9, S.33

[2] ebd.

[3] Jörg Lau, Auf der Suche nach dem guten Terror, in: Merkur 57 (2003), H.2, S.158-163