17.7.20-16.7.21: None Of Us Are Getting Out Of This Life Alive
None Of Us Are Getting Out Of This Life Alive
Or: How To Turn Fifty?
17. Juli 2020
Am Frühstückstisch plauderte ich mit dem Meerschwein des Achtjährigen. Ich staunte darüber, wie virtuos dieses Kuscheltier offenbar sein Spielzeug-iPhone bedienen konnte. Danach noch eine letzte Textarbeitsstunde. Die 70-seitige Literaturliste eines wissenschaftlichen Handbuchs, an dem ich schon einige Jahre gearbeitet hatte, musste heute fertig korrigiert werden. Ziemlich vertrackt. The Bloomsbury Handbook of the Anthropology of Sound. Dabei lauschte ich einem Beuys-Feature (von Michael Arntz) sowie der neuen EP SYS01 von FJAAK, auf die mich Elias Kreutzmaier aufmerksam gemacht hatte. Die Aktivitäten um mich herum beschleunigten sich. Geschenkpapierrollen lagen plötzlich halb abgerollt herum, kurze Menschen mit sorgsam verpackten Blumensträußen schlichen an mir vorbei; längere Menschen führten mehr und mehr zurückgezogene Gespräche.
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Mittags fuhr ich zu einem letzten Termin an den Hamburger Bahnhof. Im Restaurant war alles auf Pandemiehygiene eingestellt. Hinter mir meinte ein Gast gekränkt: »Wir müssen uns hier anstellen wie in Russland.« Wir sprachen über Klangerfahrungen und Materialismen bei Joseph Beuys; der agile Sohn der Herausgeberin malte einen Lufthansa-Passagierjet – auf meinen Wunsch hin mitten im grauenerregendeten Unwetter: Blitze, Schneeregen, Wirbelsturm. Ich sah die Räume, in denen die Ausstellung stattfinden würde und welche Arbeiten wie darin aufgeteilt würden Es war diesig. Ob die übliche Geburtstagshitze dieses Jahr ausbleiben würde?
Später kam noch mein Freund und guter Kollege aus Kopenhagen und meine ganze Familie dazu. Wir besuchten die Ausstellung von Katharina Grosse, schauten danach in dunkle Installationsräume, halbdurchlässige Spiegel, betraten vorsätzlich errichtete Ruinen. Wir beschlossen den Nachmittag in einem Biergarten, nur knapp dem Regenguss entgangen.
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Wieder daheim setzten die aufgeregten Aktivitäten des Rudels sich fort. Diskret setzte ich mich in den Balkon, trank ein oder zwei Bierchen, schaute ein paar Videos und freute mich des Lebens.
18. Juli 2020
Heute wars sonniger. Ich bleib – wie mir angeordnet war – etwas länger liegen: ich erwartete das Festfrühstück, das mir zubereitet wurde. Die solargetriebene Kakerlake, zwei Gedichtbände (Jaccottet, Ayim) und die Stuart Hall-Autobiographie erfüllten meinen Morgen (abends kam dann noch Preciados Uranus-Buch dazu). Während die Kinder Strand spielten und einen Plastepool aufpusteten, hörten wir die Sign “O” The Times. Ich war gerührt von der Geschichte des Songs I Could Never Take The Place Of You Man: Prince nahm diesen Song erstmals 1979 auf – wartete aber bis 1987 und die richtigen Produktions-Styles, um ihn dann auf das Album mit seinen 16 grundverschiedenen Tracks zu packen.
Zwei Geburtstagswünsche erreichten mich postalisch: vom Steuer- und vom Versicherungsberater. Bei den letzten Besorgungen für das abendliche Festmenümit vielen Freunden läuft Molokos Fun For Me im Radio. Die Zehnjährige übernachtete bei ihrer besten Freundin, die Zwillinge planschten weiter. Auf dem Weg zum Festmenü hörten wir Nudelgespräche an der Tramhaltestelle.
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Die vierzehn Freunde trafen dann langsam ein. Das feierliche Festessen begann. Wir lauschten und schmeckten, genossen und tranken. Sprachen in Blicken, Berührungen, Besteckklängen. Tosender Beifall aus dem Nebenraum; Subwoofer-Bässe fuhren vorüber, Partybusse. Fenchelsuppe, Quark aus Cashews, Kapern und Samen, Aprikosen und Mandelcreme; und viel, sehr viel, Champagner im und Rosé. Ein langsamer, langer Bruckner-Satz, meinte mein Kopenhagener Kollege. Und nach dem letzten Gang war kein Halten mehr. »Every single move’s uncertain / Don’t tell God your plans«, »The hum of the pandemic.«
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Angemessen trunken ließen wir uns nachhause kutschieren, Champagner im Blut.
19. Juli 2020
Der Alkohol steckte mir noch in Mark & Bein. Unten klapperte das Geschirr. Ob die Zwillinge uns wohl schon ein Frühstück vorbereiteten? Das wäre nur würdig und recht gewesen. Nach dem Frühstück legte ich mich wieder hin, las weiter in Maya Angelous erstem Roman und bedankte mich bei meinen Gästen für ihre gestrigen Aufmerksamkeiten. Die Zwillinge planschten wieder, zwischendrin ein Regenguss; Kaffee mit Geburtstagskuchen (Johannisbeercreme). Am Abend las ich die letzten Gedichte in Jericho Browns The Tradition. Bowies Young Americans.
20. Juli 2020
»Vor diesem Gott mit dem schwarzen Hundemaul.« (Jaccottet) Mir wurde heute morgen, wir lagen noch Bett, eröffnet, dass ich blau-grüne Augen hätte. 50 Jahre Lebenslüge endeten somit heute morgen: ich habe gar keine grau-grünen Augen. Alle meine Passdokumente waren & sind gefälscht. Die Maskenpflicht soll in Österreich wohl wieder eingeführt werden. Dänemark hatte nie eine und hier, im Land dazwischen, wird sie mal mehr oder weniger ernsthaft befolgt, kontrolliert oder bei Nichtbefolgung bestraft. Täglich werden neue Infektionsherde aus den unterschiedlichsten Großschlachtfabriken vermeldet. Ich las Sara Ahmeds epochalen Aufsatz zur critical whiteness wieder. Sie schreibt: »Whiteness studies, that is, if it is to be more than ‘about’ whiteness, begins with the Black critique of how whiteness works as a form of racial privilege, as well as the effects of that privilege on the bodies of those who are recogised as black.«
21. Juli 2020
Immer wieder wurde ich in den letzten Tagen gefragt, wie es denn nun sei, 50 zu sein. Oft witzelte ich dann, dass ich jetzt eigentlich ganz glücklich sei, im sechsten Jahrzehnt angekommen zu sein. Verunsichertes Lachen war dann meist die Folge. Ich erklärte dann, dass ich mich eigentlich ganz wohl hier fühlen würde mit diesem Alter.
Tatsächlich vermutete ich zum einen schon seit Jahrzehnten, eigentlich schon seit meiner Zeit als Teenager, dass ich mich erst etwa mit mitte Fünfzig wirklich wohl in meinem Leben, meinem Körper, meinen Beziehungen und meinen Fähigkeiten, meinem Begehren und meinem Denken, meinem Handeln fühlen würde. Eine Zeit des richtigen und zukunftsträchtigen Angekommenseins. Kain Ausruhen, sondern ein beherzteres Loslegen.
Andererseits scheint mir eine psychobiographische Beobachtung besonders zwingend, deren Ursprung und Urheberin ich leider tatsächlich vergessen habe. Es ist also kein Gedanke von mir, sondern ein angelesener und verinnerlichter: Bleibt unser Alter nicht stets gleich? Zumindest, wenn das Alter eine bestimmte Konstellation von Wünschen, Erfahrungen, Begehren, Mangel, Bedürfnissen und Selbstbildern umfasst. Diese Konstellation wird zwar mitunter punktuell neugeordnet oder diese Erfahrung oder jenes Begehren treten im Laufe des Lebens hinzu. Doch sind diese Umwälzungen nicht viel geringer als oft angenommen? Bleiben die meisten Menschen sich nicht zwischen, naja 25 und 75 vielleicht, ziemlich gleich? Ich möchte den meisten Menschen wirklich nicht wünschen, dass sie sich radikal und umfassend verändern. Denn in allen Fällen, in denen eine solche Veränderung tatsächlich dann einmal stattfindet, scheinen mir Gewalterfahrungen, Tod, Unfälle, Naturkatastrophen und Kriege die Ursachen zu sein. Wir bleiben uns überwiegend gleich.
Haiyti singt:
Der Montepulciano verdorben
Mama,âŸmachâŸdirâŸkeine Sorgen
Du weißt,âŸwenn ich geh’,âŸgeh’ ich all-In
Tut mir leid, melde mich morgen
Abends schauten wir mit den Zwillingen den Kinderfilm Bernhard und Bianca – Die Mäusepolizei: offenbar der erste Film, den sowohl meine Frau als auch ich als Schulkinder im Kino sahen. Es drängte sie, diesen Film nochmal mit den Kindern zu sehen; ich blieb etwas zögerlich und unsicher, ob das wohl so eine gute Idee sei. Schließlich hatten wir vor Jahren schon sehr schlechte Erfahrungen mit Bambi gemacht. Von der Anrührung und Beglückung, die sie wohl erinnert hatte (ich erinnerte mich kaum, diesen Film jemals gesehen zu haben), blieb bei unseren Kindern nicht mehr als Angst, Verstörung, sogar Tränen nach den ersten 10-20 Minuten. Vielleicht waren sie damals noch viel zu jung, vier und zwei Jahre alt. Die Große rief dann rein: »Das soll aufhören! Das ist gar kein Film!«
22. Juli 2020
Am frühen Morgen, noch im Halbschlaf, empfand ich ein starkes Stechen im Hals, an der rechten Seite, etwa auf Höhe des Schlüsselbeins. Nostalgische Gefühle für vergangene Perioden bleiben mir fremd. Die Verklärung des Vergangenen schaffe ich einfach nicht. Ich finde sie sehr uninteressant und tatsächlich auch vollkommen überflüssig, ja schädlich: nichts als Geschichtsklitterung und stets sehr unaufrichtige Schönrednerei. Denn gar nichts, das je geschah, erlebt oder getan wurde, war nur und allein schön und angenehm. In all dies ist stets viel Leid und Verfehlung, falsche Hoffnung oder Betrug mit hineingemischt. Es ist alles derart gemischt, gebrochen, überspannt oder verzagt, gestohlen oder geraubt, verdreht oder ausgeweidet. Alles, was ich je getan oder erlebt, was ich je erreicht oder beabsichtigt habe. Alles ist gemischt. Alles ist gebrochen.
Vielleicht sammle ich darum keine Fotos oder ähnliche Aufzeichnungen? Natürlich liegen immer irgendwo welche herum; früher in Kisten, Umschlägen und Alben. Heute auf Festplatten, Cloudaccounts oder irgendwelchen Endgeräten. Es drängt mich nicht danach, diese Haufen endlich einmal zu ordenen oder durchzusehen. Wenn sie sich mir manchmal aufdrängen, ist es ja durchaus hübsch, die alten Aufzeichnungen anzuschauen. Aber es sind stets doch fremde Momente, völlig entrückte Situationen und sehr, sehr ferne Welten.
Fast kommt es mir vor, als wäre in diesen Aufzeichnungen tatsächlich eine ganz andere Person bei mir nicht bekannten Tätigkeiten in mir noch viel weniger vertrauten Beziehungsverhältnissen und Lebenswelten zu sehen.
Irgendwie scheine ich mich zu erinnern, das ich tatsächlich einmal darin zugegen war. Doch ich erinnere alles ganz anders. Es waren andere Situationen, andere Empfindungsgehalte, die ich als vordergründig erinnere, ein Affektgeschehen. Die Bilder oder Filme enthalten diese Affekte nicht. Es sind optische, opto-akustische Artefakte, komponiert von den uns zuhandenen Mechaniken. Schön anzuschauen, aber tatsächlich fremd. Als hätten sie nichts mit mir zu tun. Mehr mit den Erfindern der Aufzeichnungsapparaturen oder -archivsysteme.
Ahmed schreibt: »There is of course a class elitism that presumes university is the place we go to learn, let alone to think. This is the same elitism that says that those who don’t get to university, have failed, or are deprived. The aspiration of ‘university for all’ offers at one level a vital hope for the democratization of an elite culture, but at another, sustains the bourgeois illusion that others ‘would want’ the culture that is constituted precisely through not being available to all.«
23. Juli 2020
»So profoundly in the wrong place!« So beschreibt Stuart Hall in seiner Autobiographie die Erscheinung der Kolonialsiedler von den Britischen Inseln, wenn sie in Jamaica, seinem Heimatland unhergingen. Ich kenne dieses Gefühl sehr gut. Es begleitet mich tatsächlich solange ich denken kann.
Solange ich denken kann, begleitet mich – so überraschend oder befremdlich oder gewöhnlich das scheinen mag – ein Grundgefühl, eine tiefe Ãœberzeugung des Ausgeschlossenseins, des Mangels an Einblick, der fehlenden Einführung in Gepflogenheiten, Hintergrundwissen und Handlungsanweisungen. Was allerdings in den ersten Jahren des jungen Erwachsenseins tatsächlich sehr schmerzlich war bis hin zu Depression, Existenztrauer und Todessehnsucht, hat sich freilich im Laufe des Lebens, durch viele Beziehungen, Berufstätigkeiten und erfolgreiche Resonanz hindurch gewandelt. Das Grundgefühl des Ausgeschlossenseins wurde zum nur noch sehr gelegentlichen Zweifel und zur Denkfigur des Nicht-Hegemonialen, des ›humanoid alien‹. Darüber musste ich dann 2018 freilich in der Sonic Persona schreiben: es ist ein Kern meines Verständnisses von Klängen, vom Hören, vom Umgehen unter Menschen.
Nachmittags besuchte ich die Klanginstallation eleven songs von Sam, einem guten Freund seit bald zwanzig Jahren, und Hannes, seinem Duopartner. Nachts, beim Einschlafen sah ich im Halbtraum Nachtfalter in meinem Morgenmantel sich zur Nachtruhe betten. Später bemühten sie sich, das Kleidungsstück durch die schräggestellte Balkontür hinaus ins Freie zu ziehen.
24. Juli 2020
Robotisch Geflüchtete Mutter, ich sorach ihren Dislekt nicht. Wir taren nicht die gleichen Dinge Versuch,das zu überwinden Neues Zuhause zu schaffen Zurück gewiesenwerden von Ibstitutionen Vielleicht nicht sichtbar,dennoch Klassismus Nicht bewusst, verdrängt,überspielt & besänftigt. Doch faktisch – das sehe ich heute deutlicher als jenals zuvirÂ