The End of Television




von Holger Schulze















(aus: Die Bewegung der Empfindung, 2001-2004; Erstabdruck in: Bohrmaschine. Leseheft der Jungen Akademie der Künste, Akademie der Künste Berlin 2005, S. 32-40)















Noch früh am Abend komme ich heim aus dem Club. Die Nacht hatte ich dort ohnehin nicht verbringen wollen, einzig der Lesung eines Rundfunkmoderators und Popkulturessayisten wegen war ich dorthingegangen. Wie und was er las, gefiel mir. Erschöpft schloss ich dennoch die Augen immer wieder, kurz, schönes Hörspiel, wohlig und zufrieden; sicher unter lauschenden Leuten. Klatschen, schrecke ich auf, klatsche mit sofort, froh über diese angenehme Müdigkeit. Am signierenden Autor vorbei gehe ich zur Stadtbahn, ins Bett.



Kaum zuhause eingetroffen schalte ich die Talkshow ein, die ein anderer Autor gemeinsam mit dem verantwortlichen Redakteur des Senders entworfen hat. Journalisten, Schriftsteller, hinreichend vertraut mit Popkulturgeschichte, sollen Fernsehereignisse der vergangenen Woche deuten und streiten darüber. Seit Ende der achtziger Jahre schätze ich diesen Autor, mehr als die meisten anderen, heroisch kämpfe ich gegen die Müdigkeit, mangels Videorecorder. Wartend schalte ich weiter, schreckliche Tops, eine auftoupierte Radiomoderatorin retten mich vor der Gefahr des Halbschlafs. Aus den achtziger Jahren wird eine westdeutsche Videoclipsendung wiederholt auf dem lokalen Privatsender. Ich bleibe hier. Blinzle auf New York-Skylines, londoner Vorstädte, bayrische Studiodeko, döse weiter. Weggedämmert, die Musik, Schnappschüsse, Standbilder. Bleiche Elektronikbritin, Schlagschatten. Dramatisch verwaschenes Hochland, Schottland. Witzig grimassieren deutsche Statisten. Inszenierte Disco, verrucht und schwul. Räkelt die Tänzerin sich spastisch, begehrenswert. Ich erinnere mich an jedes Detail.



Was ich fünfzehn Jahre zuvor das erste Mal gesehen habe, ein einziges Mal, ist mir bis heute präsent geblieben. Jede Einstellung, Kamera-Exzentrik, skurrile Dekogimmicks, einstudierte Gags erinnere ich detailgenau. Nichts davon vergessen. Den Ablaufplan jeder Sendung unaufhörlich memoriert, ahne ich, wann der Clip unterbrochen wird von der Moderatorin; welcher Gag ihre Ansage beendet; wann die US-Charts eingeblendet werden, welche Lieder darin auftauchen. Welcher Clip der nächste sein wird. Schnittdramaturgie, Abfolge der Szenen, alles da.



Nach dem letzten Clip, dem letzten Comic-Gag am Ende des Abspanns, schalte ich aus. Bestimmter, leicht aggressiver Knopfdruck. Ein ungutes Gefühl begleitet mich. Als wäre etwas Lebenswichtiges soeben mir genommen worden. Vor meinen Augen. Im Bett, enttäuscht, wie träge ich bin. Unbedarft habe ich zugesehen, wie alles mir genommen wurde. Gute Nacht.



Am nächsten Morgen frage ich mich, was war eigentlich so schlimm an dieser Sendung? Es war nicht diese Sendung, dieser einzelne Abend. Alle Folgen dieser Show werden in den nächsten Monaten wiederholt, immer wieder schaue ich rein, jeder Abend eine neue Chartswoche. Diese Wiederholung ist aber nur ein Zwischenergebnis der Recherche, die die Republik Pop schon seit vielen Jahren von ihrem Kollektiv durchführen läßt. Nach und nach ist die gesamte Geschichte des Mainstream-Pop durchgearbeitet worden, in Form von Revivals, in Dekadenschritten. Schon ein paar mal war in den letzten Jahren der verzagte Versuch unternommen worden, die Achtziger wiederzubeleben, erst in diesem Frühling aber ist dies wirklich gelungen. Wir sind angelangt in den mittleren achtziger Jahren.



Auf diese Wiederkehr hatte ich mich die ganzen neunziger Jahre lang gefreut. Ich hatte es allen erzählt und ausgemalt. Ich war neugierig wie es aussehen würde, wie überrascht und irritiert wir alle sein würden. Wie vorhersehbar diese Rückkehr dann doch sein würde und für Jahre alles andere überdecken würde. Ich hatte sie so sehr herbeigesehnt, weil ich mich gern an meine Zeit damals erinnerte. Eine Zeit von Aufbruchserfahrungen und Entdeckungen, mit Musik und Sprache, Mode und Freunden, die mich allesamt gemeinsam dazu brachten zu verstehen, wie das vielleicht gehen könnte, ein eigenes Leben zu führen. Sie alle hatten mir damals Überzeugungen, Handlungsgewohnheiten und unverbrüchliche Hoffnungen eingepflanzt, die mich bis heute stützen und mich immer wieder vorantreiben, mich hungrig und neugierig halten.



Ich stellte mir vor, dass die Wiederholung dieser Epoche auch eine Wiederholung dieser ersten ausrichtenden und antreibenden Erfahrungen mit sich bringen würde. Ich glaubte, dass all dieser Enthusiasmus, diese sichere Begeisterung, mit jeder neuen Entdeckung, jeder neuen Aneignung einer Überzeugung und Handlungsgewohnheit mein Leben immer größer, immer weitreichender und folgenreicher machen würde. Und ich hoffte, diese Erfahrung im Revival zu wiederholen und mich an mir selbst, an meiner eigenen Erinnerung, zu verjüngen und neue Kraft gewinnen zu können.



Denn nicht nur die Musik wurde wiederholt. Auch die Texte und Autorenfiguren, die mich damals begeistert und mir gezeigt hatten, dass Literatur und Sprache ebensoviel Kraft haben konnten wie ein Popsong, ein Chartshit, auch sie wiederholten sich und erlebten einen neuen Frühling. Derart viele Bücher erschienen 2001 von Autoren, denen die Silbe Pop vorangestellt wurde, in Köln und Reinbek, Berlin und Frankfurt, dass ich mich zurückversetzt fühlte in die eine Ausgabe des deutschen Trendmagazins, das die Neue Deutsche Literatur damals ausgerufen hatte. Autoren propagierend, die damals kaum bekannt, heute aber Leitartikel schreiben, hochdotiert, Fernsehendungen konzipieren, ihr eigenes Revival miterleben dürfen jetzt. Ich erlebte meine Anfangsbegeisterung noch einmal. Die Euphorie, mit der mich die Literatur damals befeuert hatte, die Erregung bei der Erkenntnis allmählich immer mehr zu verstehen und zu erkennen; zurechnungsfähig zu werden: ein Mensch.



Ich wollte noch einmal das Kind sein, dass durch seine Begeisterung eine Wahl vollzieht und sich entscheidet, für eine der unbegrenzten Utopien, der maßlos-anmaßenden Euphorien, für den Glauben an einen Traum vom Schreiben und der Autorschaft, von der Botschaft und der Sprache und der Ãœbereinstimmung im Geiste, im Lesen mit Zahllosen. Eine Begeisterung, ein Oberflächenhunger, ein Durst nach Neuem, eine unerschöpfliche Gier, die ich seither mir bewahrt und aufrechterhalten hatte als einzig sicheres Anzeichen umfassender Lebendigkeit. Eine Kraft und umwegslose Zielstrebigkeit, je älter ich wurde, desto mehr hatte ich sie geschützt, umso stärker bemühte ich mich darum, sie zu nähren und blühend gedeihen zu lassen. Jeden Angriff des wohlanständigen, gesetzt-hochherrschaftlichen Verhaltens, von Autoritätsgehabe und Herrenattitüde hatte ich sorgenvoll-starrsinnig abgewehrt. Ich verstand dieses schwächliche Sich-Verstecken hinter den Gewohnheiten des tradierten Lebens und seiner Gepflogenheiten nicht. Jede bürgerliche Prinzipientreue fand ich lächerlich, ein albernes Schnöseltheater. Sah ich, dass jemand das ernst meinte, ekelte er mich an, erschien mir wie der Tod selbst, ein Zombie: der pure Faschismus – tote Regeln über bewegliche Gefühle, Denkarten von Menschen zu stellen, die unvorhersehbar sich neigen. Nein: Damit begann für mich der Tod – so wollte ich nie leben. Gestorben in der bemühten Produktion einer stabilen Person, selbstgefällig ihre sklavische Entsagung zugunsten abstrakt-sadistischer Institutionen hervorkehrend. Ohne Wunsch, ohne Ziel – ohne eine bekloppt-begeisternde Utopie von einer künftig möglichen, wünschenswerten Welt und Lebensweise. Ohne die ich nicht leben konnte und kann.



Denn das Leben kann doch gar nicht anders als sich immer neu auszurichten. Jedes Erlebte ändert das bisher Gewusste und Geglaubte, das neu überdacht, erweitert, revidiert werden muss und Überzeugungen, Handlungsroutinen völlig neu bestimmt. So dass potenziell jedes Ereignis dazu beitragen kann, meine Art zu handeln und zu denken, zu empfinden, vollkommen zu ändern, mich von Grund auf umzuwälzen. Denn dies passierte mir in fast jedem Jahr.



Jeder Frühling brachte für mich eine ganz andere Musik, eine immer neue Kleiderwahl, machte einen neuen Haarschnitt immer wahrscheinlicher. Neue Theorien erschienen mir mit einem Mal plötzlich sinnvoll. Neue Zeitschriften gaben sich mir in die Hand, andere Sendeformate, Kommunikationsgewohnheiten, ästhetische Vorlieben, Empfindungsnuancen durchdrangen plötzlich meinen Alltag. Clubs und Freunde, eine ganz neue Liebe erneuerten mich.



Es war dies die Kraft des Pop, die mir die Veränderungen durch Menschen und Dinge nahe brachte und mich daran glauben ließ: Eine ruhmreiche, glückselige Zukunft in unser aller Leben ist möglich – und ich und wir alle können sie befördern, gelänge es uns, nur jeden Tag wie ganz neu sein zu lassen und die ganze Welt immer wieder unaufhörlich wie neu zu lieben.



In der Wiederholung dieser Sendung aber, in der Nacht an jenem Abend aber, sah ich die Fratze dieses Ideals.



Ich sah in dieser Sendung die Dürftigkeit und maßlose Selbstgefälligkeit dieses Ideals. Auf einen Blick war zu sehen, wie lächerlich diese grundlos gewordene Begeisterungsdarstellung war. Eine armselige Ãœberspanntheit, die längst gealtert immer noch ihre heiss ersehnte Utopie weltweiten Ruhms und schnellen Erfolges aufrechthielt. Eine Verblendung, die sich selbst weismachte, das großartige Leben des Pop könne tatsächlich eine lebbare Zukunft für mich sein – mit einem Lachen, das längst zur bitteren Muskelstarre verkommen war. Hohl-optimistische Lebenslüge.



Ich erkannte, auf den ersten Blick, ohne Nachdenken, allein vom Augenschein, wie all diese Wünsche lediglich von einer übersteigerten Vorstellungskraft des Betrachters herrührten. Die Träume eines glücklichen Lebens waren unrealisierbar. Meine eigene kindliche Hoffnung, hartnäckig genährt, zerstörte sich bloß durch meinen Blick in den Fernseher von selbst; wurde überrollt von meinem halb-schläfrigen Zugucken, zu träge, um rechtzeitig zu gehen.



Etwas hatte aufgehört. Die Kraft entweichte, Energie und Antrieb. In einem Moment, diesem dämmernden Blinzeln war die Überzeugung weg, die Hoffnung, Glaube, die Liebe entzogen. Alles was danach kam, war der Versuch, das Fehlen zu begreifen. Anders zu leben.



Im Fernsehen sah ich das Video zum Jahrzehntjubiläum der Raveparty schlechthin. Ahnengalerie von erstaunlicherweise dann doch altgewordenen DJ’s und Ravern, dreissig bis vierzig Jahre. Unbeeindruckt, hungrig, verheiratet wie Blues-Gitarristen. Rocksänger; Staatschauspieler. Ein geflochtener Kokon medialer Artefakte, das war meine Utopie gewesen. Doch dieser Traumort ist verschwunden. Diese pedantische Hülle einer unbedarften Sehnsucht. Wunsch nach totaler Hingabe an Musik und Sprache, Liebe, ihre Auflösung darin. War implodiert.



Ich ziehe eine längst für unhörbar gehaltene Quadrupelplatte aus dem Schuber, Kaffeehaus-Breakbeats. Eine umfassend enttäuschte Gelöstheit über das eigene Leben stellt sich ein. Das Nicht-Gefühl der eigenen Person. Erst in den neunziger Jahren war der Kokon doch noch einmal nachhaltig befestigt worden, doch eben diese Befestigung war nun gleich mit vernichtet worden. Denn neben der Recherche im Mainstream leitete die Republik Pop eine zweite Durchsuchung, im Untergrund. In einem anderen Tempo folgte diese Suche nicht Dekadenordnungen, sondern hüpfte von Erlebnis- zu Erfahrungswelt. Punk und New Wave hatte sie nun gemeinsam mit der Hoch-Rave-Zeit hinter sich gelassen und zelebrierte ihre neuerliche Ankunft auf den saftigen Weiden des Downtempo, Trip Hop. Selige Erinnerung wiederangeeigneter Clubs. Erfrischung alter Sehnsucht durch neue Praxis.



Das neue Jahrhundert hatte sich noch kaum erhoben, da flossen diese zwei bislang unabhängigen Bewegungen in einer einzigen zusammen, eine Legierung. Elektronische Wohnlichkeit nahm den hingebungsvollen Schwulst auf, Downbeat Singer-Songwriting schmiegte sich in perverse Wohlstandsresignation. Emulierte Haltungen gingen ein in identische Wiederholungen – Vergangenheit und Vorvergangenheit vernichteten einander in der perfektesten Umarmung, die die Popwelt je gesehen hatte.



Die Epochen waren verschwunden. Zwei Zeiten, in denen mein Leben ausgerichtet worden war, bzw. mich zurückgeführt hatte an die Grundüberzeugungen von Kraft und Glauben an die Liebe, die überdauernde Hoffnung auf ein schöneres Morgen, eine größere Zukunft – diese Ausrichtungs- und Rückführungszeiten waren nun aufeinandergetroffen in diesem Revival, in dieser Erinnerung. Sie hatten sich verschmolzen und vereinigt und allein durch ihr nochmaliges Durchleben waren sie vollkommen aufgegangen in der derzeitigen Gegenwart. Das – war das Ende des Fernsehens. Der Kokon war implodiert. Mit ihm meine Sehnsucht, die Suche nach einem idealen Leben. Ich erwartete keine Auflösung mehr, die Zukunftsträume waren zusammengebrochen. Es ist wie es ist. Pop hat sich selbst gefressen. Nur der Gedanke an Neues von der isländischen Sängerin ekelte mich schon an, Eruptionsbedürfnis, maniriertes. Der Hunger, die Gier, entbehrt. Einzig sich Robotermasken aufzusetzen, so wie das französische Elektronik-House-Duo, um sich zu schützen vor den vernichtenden Revivals. Das Ende des Fernsehens. Die Ermittlungen werden fortgesetzt.



Auf dem Dach der Plattenfirma. Typisch ausgefranste Frisuren der achtziger Jahre; Mikrophone, Instrumente, umherstehende Zuschauer, alles im Design des Revivals. Burschen in scharfen Anzügen, knielangen Mänteln, in Faltenminis die Muschis. Gitarrist der Beatles in schwarzer Flokatijacke, Sänger brauner Pelz, am Schlagzeug roter Lackbolero, der Sänger in braunem Cord. Das Ende des Fernsehens.